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Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells

Titel: Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Harvell
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seines Umhangs. Er nahm langsam einen tiefen Atemzug.
    »Sie lieben uns nicht für unseren
Gesang«, begann er erneut. Er trat noch einen Schritt vor. »Du hast eine schöne
Stimme, Moses …«
    »Er hat die schönste Stimme, die ich
je gehört habe«, fiel Nicolai ein und wedelte so heftig mit seinem Zeigefinger,
dass Guadagni innehielt.
    »Eine schöne Stimme«, sagte Guadagni.
Er nickte anerkennend. »Die Opera buffa wird dich mit offenen Armen aufnehmen. Es ist nur
gut«, er sah sich im Raum um, »dass du an die Bedingungen eines solchen Lebens
anscheinend schon gewöhnt bist.«
    »Bitte, geht«, sagte ich.
    »Ich aber hätte dich gelehrt, ein
Musico zu sein!« Der plötzliche Ausbruch ließ mich zusammenzucken, als hätte er
mich geschlagen. Ich sah auf und erkannte, dass er vor Wut zitterte.
    Sehr ruhig sagte ich: »Ihr habt mich
überhaupt nichts gelehrt.«
    »Es ist Zeit, dass Ihr geht«, sagte
Remus.
    Guadagni schwang herum. »Ich gehe,
wenn ich fertig bin!« Ganz kurz schloss er die Augen. Dann drehte er sich
wieder zu mir um und zeigte mit einem zitternden Finger auf mich. »Sie
glaubten, mich singen zu hören. Wenn sie gewusst hätten, dass du es warst, hätten sie gelacht.
Und die Soldaten der Kaiserin hätten dich von der Bühne gejagt. Es war deine
Stimme, aber mir haben sie applaudiert.«
    »Unsinn«, murmelte Nicolai.
    Guadagni holte aus und schlug Nicolai
mit dem Handrücken. Seine langen Finger hinterließen vier weiße Streifen auf
Nicolais Wange und Schläfe. Nicolais neue Augengläser fielen auf den Boden und
zerbrachen.
    »Ich habe Orpheus geschaffen«, brüllte
Guadagni, und seine Stimme ließ das kleine Wohnzimmer erzittern. »Ich habe
seinen Geist ins Leben zurückgeholt! Und dieser Junge, dieser Amateur , hat mir Orpheus’
Stimme gestohlen!«
    Nicolai blinzelte, aber er schreckte
nicht vor dem Licht zurück. Langsam mühte er sich aus dem Sessel und auf die
Füße. Er war größer als der Sänger. Guadagni stolperte zurück, bis er gegen die
Wand stieß, und dann fummelte er an seinem Umhang herum. Als Nicolai auf ihn
zukam, zog er eine Pistole heraus und richtete sie auf den Riesen.
    Nicolai lachte und richtete sich zu
voller Höhe auf. »Nur zu«, sagte er. »Schießt bloß nicht daneben.«
    Remus zog Nicolai am Arm. »Nicolai,
setz dich hin.«
    Die Pistole wackelte. Guadagni hielt
sie weiter auf Nicolai gerichtet, sprach aber zu mir. »Ich bin so viel mehr als
eine Stimme, und du bist nur ein Dieb.«
    Einen Augenblick lang empfand ich
Mitgefühl für ihn. Er hatte ja recht: Ich hatte ihn beraubt. Ich hatte ihm
gestohlen, was jeder Virtuose braucht: den Glauben, dass niemand auf dieser
Welt eine bessere Vorstellung geben kann. Ungeübt hielt er die Pistole in der
Hand. Er würde nicht auf uns schießen, er wollte lediglich, dass wir ihm
zuhörten.
    »Ist das alles, was Ihr sagen
wolltet?«, fragte ich vorsichtig.
    »Ich bin gekommen, um dir zu sagen,
dass du die Stadt verlassen sollst. Ich will dich hier nicht haben.«
    In genau diesem Augenblick setzte das
Stöhnen wieder ein. Ich grub meine Finger in die Oberschenkel. Tasso sprang von
seinem Stuhl auf. Als Amalia wieder still war, zitterte die Pistole heftiger in
Guadagnis Hand. Er warf uns der Reihe nach einen Blick zu. Endlich war ihm klar
geworden, was die Schreie zu bedeuten hatten. Er wollte wissen, wer der Vater
war.
    »Wir verlassen Wien«, sagte ich. Ich
versuchte, nachdrücklich zu sprechen, um ihn abzulenken, aber meine Stimme kam
nur als Flüstern heraus.
    »Wann?«, fragte er.
    »Sehr bald.«
    Er nickte, aber er war mit den
Gedanken woanders. Aus seinem Gesicht war alle Farbe gewichen. »Mein Gott«,
flüsterte er. »Das ist unmöglich.«
    »Verschwindet!«, brüllte Nicolai,
schüttelte Remus ab und versuchte, nach der Pistole zu greifen, die noch
stärker als vorher wackelte.
    Guadagni wich zurück. »Kann das wahr
sein?«, murmelte er. »Ist das die junge Frau Riecher?«
    Keiner von uns antwortete. Nicolai
ließ von seinem Angriff ab.
    »Sie ist mit dir weggelaufen?«, fragte
er mich. Seine roten Lippen und die stechenden Augen waren die einzige Farbe in
seinem Gesicht.
    Genau in diesem Moment schrie Amalia.
In ihrer Stimme lag ein solcher Schmerz, dass ich auf die Tür zusprang, aber
Remus ergriff meinen Arm und hielt mich zurück.
    Als ihr Schrei verhallte, stand
Guadagni an der Tür zur Treppe. »Ihr seid alle verdammt«, sagte er und floh.
    Nur Nicolai reagierte. Aber er war
nicht mehr der Mann, der vor Jahren durch

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