Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells

Titel: Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Harvell
Vom Netzwerk:
dem engen
Zimmer kniete und sang wie im Gebet, während das Geklirr von Kaffeetassen durch
die klapprige Tür drang und ich den bitteren Geschmack von Holzkohlenrauch auf
der Zunge spürte, erkannte ich, was für ein Geschenk ich bekommen hatte. Soll die Zukunft nur kommen!, dachte ich so stolz und so hoffnungsvoll, wie ich noch nie gewesen war.
    Aber plötzlich weiteten sich ihre
Augen und ihr Gesicht verspannte sich, als sähe sie einen feindlichen Geist
hinter meinem Kopf lauern. Genauso unvermittelt, wie ein Griff die Saiten einer
Geige verstummen lässt, verlor ihr Körper meine Stimme. Sie griff unter die
Wölbung ihres Bauches und keuchte.
    Es war in dreißig Sekunden vorbei,
aber das traurige Mädchen, das sich vor so vielen Jahren Sorgen um ihre kranke
Mutter gemacht hatte, war wieder zum Vorschein gekommen. »Oh, Moses«, sagte
sie, »das wird wehtun.« Ich legte ein kühles Handtuch auf ihre Stirn und suchte
nach tröstlichen Worten, aber ich fand keine.
    Sie nahm meine Hand. »Ich habe solche
Angst, dass es aussieht wie Anton«, sagte sie. »Ich möchte, dass mein Kind so
wird wie du.«
    Diese Befürchtung äußerte sie zum
ersten Mal. Ich nahm ihre Hand und küsste sie. »Ich habe ein Geheimnis«,
verriet ich ihr. »Ich hatte einen Vater. Er war der schrecklichste Mensch, den
ich je gekannt habe. Er war hässlich. Und sehr gemein. Wenn du diesen Mann
nicht in mir sehen kannst, brauchst du keine Angst zu haben. Ich weiß nicht, wie
unser Kind sein wird, aber ich verspreche dir, es wird nicht wie sein Vater
sein.«
    Sie drückte meine Hand, und ich war
glücklich, als ich merkte, dass sie das tröstete – selbst als sie beim nächsten
Ansturm von Schmerzen die Augen zusammenkniff und stöhnte. Als es vorbei war,
öffnete sich die Tür und Tasso brachte die Hebamme herein. Sie war groß und
dünn und hatte borstige graue Haare. Beim Anblick des überfüllten Zimmers
runzelte sie die Stirn. Aber das war alles. Manch eine Hebamme aus der Inneren
Stadt hätte einen Blick auf die Szene geworfen und wäre verschwunden: eine Dame
allein mit vier Männern, von denen keiner der Vater war! Aber diese Frau kannte
die Straßen von Spittelberg. Sie kannte die Bordelle und die sehr jungen
Mädchen, die Mutter wurden, sie kannte auch die Frauen, die das entstehende
Leben in sich töten wollten. Sie war abgebrüht. Sie stellte keine Fragen.
    Sie blickte auf mich und muss meine
Angst deutlich erkannt haben. Sie befahl Tasso, Wasser abzukochen, Laken und
Handtücher zu holen und ihr einen Tisch zu beschaffen, auf den sie ihre
Ausrüstung legen konnte. Und dann gab sie einen letzten Befehl. »Schaffen Sie
diesen Mann«, sie nickte in meine Richtung, »aus dem Zimmer und lassen Sie ihn
nicht zurück, bis das Kind kommt.«
    Amalia wollte sich mühsam aufsetzen,
aber die Hebamme zwang sie, liegen zu bleiben. Unsere Blicke trafen sich. Ich
hatte noch nie eine solche Angst auf ihrem Gesicht gesehen.
    »Moses!«, sagte sie.
    »Alles wird gut«, sagte ich, und mein
Hals war so eng, dass es als Flüstern herauskam. »Ich bin direkt vor der Tür.«
    Tasso schob mich hinaus.
    Er setzte mich auf einen Stuhl, und
wir alle zitterten in dem halbdunklen Wohnzimmer, in dem es so still war, dass
man nur das gelegentliche Schlagen der Kaffeehaustür hörte, das ständige
Kreischen von Kindern auf der Straße, die regelmäßigen Schmerzensschreie, die
durch die dünne Tür drangen.
    »Jetzt bleiben wir einfach hier sitzen
und wa …«, begann Remus, aber er unterbrach sich, weil ich mich plötzlich
kerzengerade aufgesetzt hatte.
    Ich hatte die langsamen Schritte auf
der Treppe einen Augenblick vor den anderen gehört. Wir hatten noch nie einen
Besucher gehabt. Und jetzt wollte ich schon gar keinen.
    »Wer ist das?«, murmelte Tasso.
    »Ich sorge dafür, dass er geht«, sagte
Remus und sprang auf. »Er darf nicht …«
    Aber es war zu spät. Der Türknauf
drehte sich. Die Tür wurde geöffnet. Eine große Gestalt mit einer Kapuze auf
dem Kopf trat leise ein und schloss die Tür hinter sich. Als wäre er auf der
Bühne, hob Gaetano Guadagni dann seine vollkommenen Hände sehr langsam in die
Höhe und zog seinen Umhang zurück. Er betrachtete sein kärgliches Publikum. Als
er mich sah, lächelte er, als wäre er sehr erleichtert.
    »Mio fratello«, sagte er.

XIX.
    Das Wohnzimmer hatte nie so
klein gewirkt. Guadagnis strahlende Augen betrachteten die zerfetzten Vorhänge,
die staubigen Bücherstapel an den Wänden, das Sammelsurium der Möbel,

Weitere Kostenlose Bücher