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Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells

Titel: Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Harvell
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Männern«,
sagte sie schließlich, »erwarte ich Dummheit. Ich hatte gehofft, deine wäre
weggeschnitten worden.«
    Dann öffnete sich die Tür von Amalias
Zimmer. Die Hebamme sah heraus. Der gelassene Gesichtsausdruck war
verschwunden. Ihr Haar war zerzaust, und obwohl sie ihre Hände hinter dem
Türrahmen versteckte, verriet uns die Blutspur auf ihrer Stirn den Grund. Sie
versuchte, die Situation in dem überfüllten Zimmer zu erfassen.
    »Man muss einen Arzt holen«, sagte sie
zu niemand bestimmtem.
    Tasso stand auf, aber Gräfin Riecher
hielt ihre Hand in die Höhe. »Sie bekommt den besten in Wien.« Sie ging ans
Fenster und rief ihrem unten wartenden Kutscher zu, er solle den Arzt der
Riechers holen.

XXI.
    Als er kam, war die Nacht
hereingebrochen. Remus zündete eine Kerze an und gab der Hebamme eine Lampe.
Der Arzt war ein kleiner, nervöser Mann. Er betrat den Raum wie eine
erschreckte Maus und seine Augen flitzten umher, um Gefahren zu erkennen. Seine
schwarze Tasche hielt er wie einen Schild. In dem trüben Licht lokalisierte er
Gräfin Riecher – als sähe er eine Nische, in der er sich verstecken könnte –
und verbeugte sich leicht. Dann schlurfte er zu ihr, um sich neben sie zu
stellen. Er schien sicher zu sein, dass der Schmutz dieses Zimmers in ihrer
unmittelbaren Umgebung gemindert war.
    Er besprach sich kurz mit der Hebamme,
und ich hörte, wie Gräfin Riecher ihm zuflüsterte: »Retten Sie das Kind, Herr
Doktor. Um welchen Preis auch immer.« Dieser grausame Vorschlag ließ ihn kurz
zusammenfahren, aber dann nickte er bekräftigend und ging zu Amalias Tür, wo er
die Hand hob, als wolle er klopfen. Er nahm jedoch davon Abstand und trat ein.
Die Hebamme folgte ihm und schloss die Tür.
    Er gibt ihr etwas zur Beruhigung.
Ihre Schreie verhallen, und ich frage mich, ob sie in ihrem Kopf schreit, wie
ich es vor zehn Jahren beim Schnitt des Messers getan habe. »Ihr müsst sie
festhalten«, weist der Arzt die Hebamme an.
    Tasso kauert in der Ecke und starrt zu
Boden. Nicolais Augen sind geschlossen, aber ich weiß, dass er nicht schläft.
Remus hält seinen Ellenbogen mit der einen Hand, die andere liegt vor seinem
Gesicht, als wäre er tief in Gedanken. Ich weiß, dass wir alle denken: Wir haben versagt. Gräfin
Riecher hat die juwelengeschmückten Hände vor der Brust gekreuzt. Stunden
scheinen zu vergehen, und sie macht keine einzige Bewegung. Sie rührt sich
nicht einmal, wenn Amalia stöhnt.
    Ich werde eher sterben, als dass sie
der Mutter dieses Kind wegnehmen.
    Der Arzt stößt einen drängenden Ruf
aus, und wir sehen alle auf – selbst Gräfin Riecher scheint zum ersten Mal
wirklich beunruhigt zu sein. Wir alle versuchen, durch das Holz der Tür
hindurchzusehen.
    Die Luft ist so stickig, dass das
Atmen schwerfällt.
    Und dann – ein Krächzen. Die
anderen können diesen Laut nicht von Amalias Stöhnen und den Befehlen des
Arztes unterscheiden, aber ich höre jede Note. Es ist das Geräusch von zwei
winzigen Lungen, die sich entfalten. Sie saugen Luft und Blut und das Wasser des
Mutterleibs ein. Zum ersten Mal halten sie den Atem an, unsicher, was sie damit
anfangen sollen, und dann ein erster Klagelaut – das Lied des Lebens. Meine
drei Freunde sehen auf. Das Baby!
    Und ich höre jetzt, dass es ohne jeden
Zweifel ein Junge ist. Unser Sohn.
    Wir stehen auf.
    Sein Klagen erstirbt. Es endet mit
einem dreimaligen Keuchen: Ach! Ach! Ach! Dann schreit er wieder. Diese Welt ist so schrecklich
und kalt! Meine Ohren ergötzen sich an jedem Schrei, selbst als sich ein
Abgrund in unserer kleinen Welt auftut – Hört! Hört!  –, denn es gibt andere Laute, die ich hören will, und
sie sind nicht da.
    Ich kann nicht sprechen. Ich kann mich
nicht bewegen. Die Welt dreht sich ohne mich weiter. Tassos Schultern sind nach
vorne gezogen, seine Ellenbogen ragen zur Seite. Jedes Haar in seinem Nacken
ist gesträubt. In Remus’ Augen liegt Wut. Nicolais Wimpern zucken. Er blinzelt.
Seine Fäuste sind erhoben.
    Das Baby schreit nach seiner Mutter.
    Mach ein Geräusch, das ich hören kann!
    Ich kann nicht atmen, ich schwanke hin
und her. Ein Schatten huscht an mir vorbei: Remus. Er streitet sich mit Gräfin
Riecher, und die Soldaten greifen nach ihren Schwertern. Einer pfeift, und die
anderen beiden, die den Eingang zum Kaffeehaus bewacht haben, kommen nach oben
gestampft. Sie schlagen die glatten Knüppel in ihre Handflächen.
    »Wir habe keine Angst vor euch!«,
bellt Nicolai.
    Nein!, versuche ich zu

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