Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells
die Abtei zu Ulrichs Zimmer gerast
war. Er trottete schwerfällig die Treppe hinunter. Remus, Tasso und ich liefen
ans Fenster. Wir sahen, wie der Sänger auf die Straße rannte und in der
Menschenmenge verschwand. Es dauerte mehrere Sekunden, bis Nicolai folgte, und
als er ohne seine Augengläser in den Sonnenschein des Nachmittags stürzte,
schrie er auf und zerrte an seinen Augenlidern. Neben mir ächzte Remus, als wir
sahen, wie Nicolai seinen Kopf umklammerte und auf der Straße auf die Knie
fiel.
XX.
Ich stand an Amalias Tür,
als die anderen Nicolai halfen, die Treppe wieder hinaufzukommen. Sie setzten
ihn in seinen Sessel. »Nein!«, schrie er und presste seine Handballen gegen die
Schläfen. »Nein, nein, nein!« Remus brachte ihm Wein, der mit Laudanum versetzt
war, aber Nicolai schlug das Glas mit der Hand weg, und es zerbrach am Boden.
»Wird er es ihr sagen? Wird diese
grässliche Riecher kommen?«, flüsterte Tasso Remus zu und glaubte, ich würde es
nicht hören.
»Davon bin ich überzeugt.«
»Warum?«, fragte er. »Es ist nicht ihr
Kind.«
»Wenn es ein Junge wird, ist er der
älteste Sohn ihres ältesten Sohnes – eines Tages Graf Riecher. Und darüber
hinaus der Erbe des Hauses Duft. Sie wird versuchen, ihn an sich zu bringen.«
»Aber wir lassen das nicht zu«, sagte
Tasso.
Remus antwortete nicht. Er kam zu mir,
legte die Hände auf meine Schultern und führte mich zu meinem Stuhl zurück.
Nicolai atmete rhythmisch aus, weil er versuchte, den Schmerz aus seinem Kopf
zu vertreiben.
»Remus«, fragte ich, »was sollen wir
tun?«
»Ich weiß es nicht.«
»Wenn sie versucht, das Kind an sich
zu nehmen«, sagte Nicolai, »bringe ich sie um.«
Sie kam – schon eine Stunde später
– und sie kam nicht allein.
Draußen wurde es dunkel. Vier Soldaten
zu Pferd begleiteten ihre Kutsche. »Zur Seite!«, riefen sie. »Weg da, ihr
Kanaillen!« Sie schlugen ihre Knüppel in ihre Handflächen und ließen sie durch
die Luft auf jeden sausen, der den Pferden zu langsam Platz machte. Tasso stand
am Fenster und beobachtete sie. Die Federung der Kutsche quietschte, als sie
über die Unebenheiten der Straße holperte. Dann war alles still, nur die vier
Hengste schnaubten.
»Die Tür der Kutsche öffnet sich«,
flüsterte Tasso. »Jemand steigt aus.«
Ich hörte, wie ihr Schuh auf die
schmale Stufe der Kutsche trat und wie ihr Kleid raschelte, als sie es anhob,
damit es nicht durch den Dreck schleifte. Schwere Schritte gingen ihr voran,
ein Soldat öffnete die Tür des Kaffeehauses. »Verschwindet, ihr Schweine«, rief
er. »Eine Dame kommt.« Bänke kratzten über den Boden. Gäste mühten sich in ihre
Mäntel. Drei Kaffeetassen gingen auf den Dielen zu Bruch. Die Männer eilten auf
die Straße.
Wir alle hörten die Schritte: die
schweren Stiefel von zwei Soldaten, das Klacken von Gräfin Riechers Absätzen –
und einen schlurfenden Gang, den ich nicht kannte. Sie kamen die Treppe herauf.
Die Tür wurde aufgerissen und fiel krachend gegen die Wand. Ein Soldat mit der
Hand am Schwert verschaffte sich schnell einen Überblick, kam aber sogleich zu
dem Schluss, dass wir jämmerliche Gegner waren. Nicolai hielt sich den Kopf mit
zwei Fingern. Tasso stand niedergeschlagen am Fenster. Remus betrachtete seine
Hände, die in seinem Schoß lagen.
Als Gräfin Riecher durch unsere
ramponierte Tür trat, rauschten ihr Kleid und ihr Umhang – beides makellos –,
ihre Schuhspitzen klopften auf unsere knarrenden Dielen und jedes einzelne Haar
auf ihrem Kopf war tadellos frisiert. All das bewies allzu deutlich, wie dumm
wir gewesen waren. Hinter ihr kamen der zweite Soldat und dann eine blasse,
rundliche Frau – eine Kinderschwester –, die sich duckte wie ein scheuer Hund,
der an der Leine hinterhergezerrt wird.
Gräfin Riecher funkelte mich an. »Ist
es wahr, was der Kastrat sagt?«, wollte sie wissen. »Ist sie hier?« Sie machte
einen Schritt in den Raum, und Nicolais zerbrochene Augengläser knirschten
unter ihren Sohlen.
»Er soll mir antworten«, sagte sie.
Ich schüttelte den Kopf, aber in
diesem Moment hörten wir ein Stöhnen, das sich zu einem Schrei steigerte, als
hätte jemand meiner Liebsten ein Messer in den Bauch gestochen. Die
Kinderschwester riss die Augen auf, und ich erstarrte, als sich das Geräusch
ihres Schreis in meinen Kopf bohrte.
Gräfin Riechers Gesicht war
ausdruckslos. Sie wartete darauf, dass das Schreien nachließ. »Nun gut«, sagte
sie, »ich vergewissere mich selbst,
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