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Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells

Titel: Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Harvell
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dauerte
mehrere Wochen an, und eines Morgens wachte ich auf, um zu entdecken, dass er
sich auf meine Knie, meine Hüften und Ellenbogen und dann in alle Glieder
ausgebreitet hatte. Es tat so weh, dass ich nicht schlafen konnte. Der Schmerz
erstreckte sich in meine Augenhöhlen und ich glaubte schon, mein Schädel würde
bersten. Innerhalb von sechs Monaten hatte sich die Größe meiner Hände und Füße
verdoppelt; innerhalb eines Jahres war ich um einen ganzen Kopf gewachsen.
    In der Abtei wurde mein Wachstum mit
Besorgnis gesehen wie eine Zusammenballung von dunklen Wolken. »Harte Zeiten
stehen bevor«, sagte Nicolai eines Abends in seiner Zelle zu mir. Er erzählte
mir, dass meine Stimme bald brechen würde und dass ich dann kein Sopran mehr
wäre.
    »Man weiß nicht, was passieren wird«,
sagte er. »Du wirst wahrscheinlich Tenor, aber vielleicht auch Bass.« Er
hoffte, Ulrichs Einfluss würde genügen, um einen Weg für mich zu finden, in der
Abtei bleiben zu können. Staudach, sagte Nicolai, würde mich vielleicht nicht
als Novizen nehmen, da ich keine reichen Eltern hatte, die sich als Wohltäter
eigneten, aber möglicherweise ließ er mich das Silber putzen, bis meine Stimme
ihre endgültige Qualität angenommen hatte. »Und dann«, sagte Nicolai, »finden
wir einen geeigneten Ort, wo du deine Karriere beginnen kannst.« Er nickte
wissend. »Höchstwahrscheinlich Venedig.«
    »Meine Karriere?«, fragte ich.
    »Du willst doch Musiker werden oder
nicht?«
    Ich überlegte. »Wie Bugatti?«
    »Nun«, sagte Nicolai und warf einen
Blick zu Remus, der in sein Buch vertieft war, »in gewisser Weise. Vielleicht
erlaubt Staudach mir, eine Tournee zu machen. Wir könnten in den größten
Kathedralen Europas singen.« Nicolai beschrieb mit dem Arm einen Bogen, als
wären diese großen Gebäude an seiner Wand aufgereiht.
    Ich sagte, das würde mir gefallen.
    »Allerdings«, sagte er, »bezweifle
ich, dass Staubdreck mich wieder aufnehmen würde, wenn ich noch einmal diese
Mauern verlasse. Aber dann könnten wir unser eigenes Kloster gründen – du, ich
und Remus.« Bei diesen Worten sah Remus von seinem Buch auf. Er schnaubte, dann
kehrte er zu seiner Lektüre zurück. Nicolai ignorierte ihn. »Eines ist sicher:
Wenn dir erlaubt wird, durch die Welt zu reisen und reich und berühmt zu
werden, darfst du mich nicht hier zurücklassen!«
    Ich lächelte.
    Er legte sich auf sein Bett und
schloss zufrieden die Augen. »Jetzt müssen wir nur noch auf deine Stimme
warten. Hab Geduld.«
    An vielen Abenden stand ich nackt
vor dem schmalen Spiegel in meiner Dachkammer und betrachtete prüfend den
Körper, der sich jedes Mal verändert zu haben schien. Ich habe dich zu einem Musico gemacht, hatte Rapucci gesagt, und jetzt gab es keinen Zweifel
mehr. Da waren Bugattis lange, zarte Finger, seine breite, gerundete Brust –
fast wie die eines Vogels. Mein Kopf streifte die Dachschräge. Vor Jahren war
Bugatti mir riesig vorgekommen, aber jetzt war ich größer als er, größer als
alle Mönche in der Abtei, Nicolai ausgenommen. Die Novizen, die so alt waren
wie ich, hatten dunkle Haare über den Lippen, ich hatte keine. An ihren Hälsen
stachen Adamsäpfel hervor, mein Hals war so glatt wie der einer Frau, obwohl
niemand mein Gesicht für ein weibliches Gesicht gehalten hätte. Meine Augen
waren so stechend, dass ich jedes Mal zusammenfuhr, wenn ich sie im Spiegel
erblickte. Aber trotzdem sah ich mich jeden Abend an, denn im Spiegel sah ich
keinen Mann, keine Frau, sondern einen Engel.
    Ich wurde zu groß für die Kirche. Ich
zerstörte den Chor, denn selbst wenn ich leise sang, ließ meine Stimme die der
anderen klein und kalt erscheinen. Bei unseren kurzen Begegnungen an der
Pforte, wo Amalia immer noch den Kopf senkte und für alle, die sie sahen, ins
Gebet vertieft zu sein schien, sehnte ich mich danach, dass sie meinen Gesang
lobte. »Oh, Moses«, sagte sie eines Sonntags, »mein Herz flattert, wenn du
singst. Wenn ich daran denke, dass meine Mutter und ich dich ganz für uns
allein hatten!« Inzwischen spähte ich durch eine höhere Lücke in der Pforte und
sah von oben auf ihre Schönheit. Gelegentlich blickte sie hoch und ich merkte,
dass sie versuchte, meine Gestalt hinter dem Gewirr aus goldenen Blättern
wahrzunehmen, aber sie sah ihn nie, den Körper eines Engels. »Berühre meine
Hand«, sagte sie eines Tages spontan und gab für einen Augenblick die fromme
Gebetshaltung auf, um das Gitter zu berühren. Ich steckte zwei

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