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Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells

Titel: Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Harvell
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Moses. Er verschweigt uns nichts. Wir verschweigen
ihm nichts.«
    »Manche Dinge werden besser nicht
ausgesprochen.«
    Nicolai nickte zur Decke hinauf. »Du
hast recht, Remus. Über manche Art von Liebe soll man nicht sprechen.«
    Remus runzelte die Stirn. »Danke.« Er
zuckte verlegen die Achseln, als hätte er mich gekränkt und wolle sich
entschuldigen.
    »Manchmal darf das nur der Gesang.«
Nicolai setzte sich auf. Ich lächelte. Remus wirkte gequält. Wir konnten beide
die Energie in seiner Stimme hören – ein Sturm braute sich zusammen.
    »Nein, Nicolai. Nicht jetzt.«
    »Moses?«
    »Ja?« Ich setzte mich auf und legte
die Hände auf die Knie, ganz das erwartungsvolle Publikum.
    Er schenkte sich noch einen Becher
Wein ein, trank ihn wie Wasser und stellte sich in die Mitte des Raumes. Er
schwankte von einer Seite zur anderen. Sein Blick war ziellos, aber strahlend
und fröhlich. »Zeit zu singen!«
    Remus klappte sein Buch zu. »Nicolai,
es ist zu spät«, sagte er. Er stand auf. »Moses und ich gehen jetzt.«
    »Es ist nie zu spät, von der Liebe zu
singen.«
    »Heute Nacht schon.« Remus zeigte mit
seinem Buch auf Nicolai. »Gib ihnen nicht noch mehr Grund, dich zu
verabscheuen, Nicolai.«
    »Mich verabscheuen? Warum sollte mich
jemand wegen meiner Liebe verabscheuen?«
    »Wir sprechen am Morgen darüber.«
    »Wenn ich nicht so betrunken von der
Liebe bin?«
    »Und von anderen Flüssigkeiten.« Remus
nickte mir zu und zeigte auf die Tür.
    »Nein!«, rief Nicolai, als wolle ich
ihn verraten. Er erhob einen Finger, damit ich sitzen blieb, und schwankte
leicht hinter meinem Sessel. »Ein aufrichtiger Liebhaber scheut nie vor der
Erklärung seiner Liebe zurück. Jetzt muss ich singen oder die Götter glauben
nicht an meine Liebe.«
    »Bitte«, sagte Remus ernst. »Nicht
heute Nacht.«
    Nicolai sah mich an. »Erkennst du das
Problem? Wenn ich singe, verabscheuen sie mich; wenn ich es nicht tue,
verabscheue ich mich selbst.« Er zuckte die Achseln. »Die Wahl ist nicht schwer
zu treffen.«
    Er wandte sich wieder seinem Wein zu,
schenkte sich noch einen Becher ein, nahm einen großen Schluck und trat auf
seine improvisierte Bühne. Remus zog mich am Ärmel. Ich schickte mich an, mit
ihm zu gehen, aber ich tat es nicht. Ich konnte nicht.
    Nicolai begann extrem leise: O cessate di piagarmi, o lasciatemi morir, o lasciatemi morir! Er wandte sich an mich und flüsterte: »›Oh, erlöse
mich von dieser Qual, oh, lass mich sterben, oh, lass mich sterben! Verstehst
du, Moses? Die Liebe peinigt mich!«
    Luc’ ingrate, dispietate. Er schwankte heftig, die Arme wie Zweige im Wind.
Jetzt sang er lauter, so laut, dass andere Mönche ihn durch die Wände hindurch
hören mussten. Più del gelo e più dei marmi fredde e
sorde ai miei martir, fredde e sorde ai miei martir. Nicolai legte seine Hände über die Augen, als wolle er
sie sich ausreißen.
    »In Ordnung, Nicolai«, sagte Remus. Er
zog heftiger an meinem Hemd. »Das genügt. Du hast dich deutlich erklärt.«
    Nicolai wiederholte: O cessate di piagarmi, o lasciatemi morir, o lasciatemi morir!
    »Moses«, sagte Remus. Er schüttelte
meinen Arm. »Wir müssen gehen. Er hört auf, wenn wir weg sind.«
    »So wird es gemacht«, sagte Nicolai zu
mir, als wäre Remus gar nicht da. »Sie wiederholen dieselbe Sache wieder und
wieder und wieder und wieder. Das macht es stärker. Und ohnehin sind die Worte
nicht so wichtig. Das Lied ist wichtig.«
    O cessate di piagarmi, o lasciatemi morir, o
lasciatemi morir! Jetzt sang er noch
lauter und legte seine Hand auf sein Herz, als würde es zerspringen. Sein
sonorer Bass vibrierte in meinem Bauch. Sicher konnte der ganze Flügel sein
Liebeslied hören. Ich konnte ein Lächeln nicht unterdrücken, das sich auf
meinem Gesicht ausbreitete. Ich lachte vor Freude. Nicolai beherrschte die
Noten nicht so vollkommen wie ich, aber er erfasste die Macht der Musik.
    »Du auch, Moses.« Er streckte eine
Hand aus, um mich auf seiner Bühne willkommen zu heißen.
    »Moses, bitte«, sagte Remus.
    Ich sah von dem einen Mann zum
anderen. Remus trug eine solche Besorgnis im Gesicht, Nicolai eine solche
Freude. Die Wahl fiel mir nicht schwer.
    Ich hatte noch nie auf Italienisch
gesungen, aber ich gab mir große Mühe, Nicolai zu imitieren, natürlich zwei
Oktaven höher. O cessate di piagarmi, o lasciatemi
morir, o lasciatemi morir!
    »Lauter!«, rief er wie ein heidnischer
Priester. »Der Himmel muss uns hören!«
    O cessate di piagarmi, o lasciatemi

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