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Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells

Titel: Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Harvell
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lange, schlanke
Finger durch ein Loch und streichelte einen kurzen Moment lang die weiche Haut
ihrer Hand. Ihre Wangen brannten, als sie zu ihrer Tante davoneilte.
    Alle wollten mich singen hören. Selbst
Protestanten aus der Stadt kamen, um unsere Messe zu hören. Am Ende war die
riesige Kirche zu klein, um die Mengen aufzunehmen. Staudach ließ den Eingang
überwachen, damit die wohlhabenden Gottesdienstbesucher, deren Gunst er
benötigte, auf jeden Fall Platz auf den Kirchenbänken fanden. Die anderen
rempelten sich, um hinten stehen zu können. Die Menge flüsterte und schlief und
aß, wenn Staudach Gottes Vollkommenheit predigte, aber sie waren still, während
ich sang.
    Aber in einer einzigen Nacht änderte
sich all das und noch viel mehr.
    Wir waren in Nicolais Zimmer.
Remus saß in düsterer Stimmung in der Ecke und las, und Nicolai unterhielt mich
mit Visionen von unserer Zukunft: Wir würden zusammen durch Europa reisen, als
Sänger und Agent. Irgendwie war es ihm gelungen, an diesem Abend das
Refektorium mit drei Krügen Abteiwein zu verlassen, und nachdem er bereits zwei
davon getrunken hatte, war sein Blick verschwommen und seine Stimmung die
allerbeste. Inzwischen hatte sein Plan für meine Karriere Gestalt angenommen:
Ein Palast in Venedig würde unser Zuhause sein, und von dort aus würden wir zu
den größten europäischen Bühnen reisen. Wir würden Remus mitnehmen, damit er
unser Gepäck tragen könne, erklärte er und lachte und brüllte dabei so laut,
dass es bestimmt jeder Mönch auf dem Gang hören konnte.
    Da mein Stimmwechsel auf so
erstaunliche Weise auf sich warten ließ, war Nicolai zu dem Schluss gekommen,
dass ich gewiss ein Tenor werden würde. »Tenöre sind die schlimmsten«, sagte
er. »Sie ziehen sich an wie Prinzen und stolzieren herum, als könnte jede ihrer
Bewegungen Damen in Ohnmacht fallen lassen, was natürlich der Fall ist.
Überall, wo sie hinkommen, hinterlassen sie eine Spur von bewusstlosen Frauen.
Man kann sie nicht zum Abendessen einladen, weil dann immer ein Haufen Gäste
auf dem Boden liegt.« Plötzlich sah er sehr besorgt aus. »So wirst du doch
nicht werden, Moses?«
    Ich schüttelte den Kopf.
    »Nein?«, rief er, nachdem er noch
einen Becher Wein geleert hatte. »Und warum nicht? Was schadet es schon, ein
paar Frauen ohnmächtig werden zu lassen? Genau das wollen sie. Jede Frau will
mindestens einmal im Leben aus Liebe ohnmächtig werden. Männer wollen das
natürlich auch, aber ihre Größe erschwert es ihnen, einfach umzukippen. Ich bin
nur einmal aus Liebe ohnmächtig geworden.«
    »Das war nicht echt«, sagte Remus, der
aufsah. »Es war im Teatro Ducale, und du hast es nur vorgetäuscht.«
    »Hab ich nicht.«
    Ich entdeckte ein unterdrücktes
Grinsen auf Remus’ Gesicht. »Wenn du wirklich mal in Ohnmacht fällst«, sagte
er, »wird die Welt es zur Kenntnis nehmen. Denn kein Fußboden ist der Belastung
gewachsen.«
    Nicolai zuckte die Achseln. »Er hat
recht. Ich darf nicht in Ohnmacht fallen. Was würde ich darum geben, eine
schlanke Dame zu sein! Dann könnte ich zusammenbrechen, wann immer mir danach
wäre! Ich würde es ständig tun.« Er stand auf und gab eine recht gelungene
Vorstellung von gezierter Anmut, wobei er seine Riesenhände wie Hasenpfoten vor
der Brust hielt. »Meine Augen und Ohren wären so empfänglich für jede Art von
Schönheit, dass ich ständig am Rande des Zusammenbruchs wäre. Ein Blick würde
genügen, um mein Herz zum Flattern zu bringen, und ich würde fallen.« Er sah
mich an, tat so, als wäre er verliebt, hielt sich eine Hand an die Stirn, und
dann fiel er in Ohnmacht und ließ sich sanft aufs Bett sinken. Aber trotz aller
Vorsicht jaulte der Bettrahmen. Ich klatschte Applaus. Remus grunzte.
    »Wie die Dinge liegen«, sagte Nicolai,
als er auf der Matratze lag und an die Decke blickte, »muss ich, so wie ich
gebaut bin, meine Ohren verschließen und meine Augen verschleiern, um kein
Risiko einzugehen und mich selbst und die Menschheit nicht zu gefährden. Dieser
Körper ist eine große Verantwortung.« Er rieb sich mit zwei Riesenhänden über
den gewaltigen Bauch.
    Remus schüttelte den Kopf.
    »Mach dir keine Sorgen, Moses«, sagte
Nicolai und gab seinem Bauch einen letzten liebevollen Klaps. »Remus liebt
diese Form so oder so.«
    Remus sah verärgert von seinem Buch
auf; er lächelte nicht mehr. »Pass auf, was du sagst. Der Wein lockert dir die
Zunge.«
    »Ach, lieber Remus, wir haben doch
keine Geheimnisse. Nicht vor

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