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Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells

Titel: Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Harvell
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ihren Namen. Sie sah nach links, nach
rechts, hinter sich. Mehrere andere Kirchgänger taten dasselbe – Gott sei
gedankt, dass ihre Tante fast taub war – und dann trat sie durch die Tür
hinaus. Nach der nächsten Messe, bei der ich sang, wiederholte ich es, und dann
wieder nach der nächsten. Bei diesem dritten Mal bemerkte ich, dass sie langsam
ging, darauf wartete, ihren Namen zu hören, und als ich ihn flüsterte, drehte
sie sich um und blickte direkt in mein Auge, das durch die Pforte spähte.
    Als ich das nächste Mal sang, noch
einmal zwei Wochen später, brauchte ich nicht zu rufen. Ich hörte, wie Amalia
zu ihrer Tante sagte, sie wolle sich das Gipsrelief von Sankt Gallus ansehen,
das die Wand direkt vor der Pforte schmückte. Karoline blickte auf die Figur,
als sei sie dunkler Machenschaften verdächtig, aber als sie in ihr den
Schutzheiligen der Abtei erkannte, nickte sie zustimmend und verließ die
Kirche. Amalia trat an das Relief. Wäre da nicht die dichte Metallverzierung
der Pforte gewesen, hätte ich die Hand ausstrecken und ihre Schulter berühren
können. Sie senkte den Kopf. Einen Augenblick war ich unsicher, ob sie wusste,
dass ich da war.
    Dann brach ihr frommes Gesicht in ein
Grinsen aus. »Du wirst Ärger bekommen«, sagte sie.
    »Du auch.«
    »Aber mir ist das egal«, sagte sie
übermütig. »Ich habe keine Angst vor ihr.«
    »Ich habe auch keine Angst«, log ich.
    Ein erneutes Grinsen, das sie jedoch
unterdrückte. Sie schien ihr Gebet wieder aufgenommen zu haben.
    »Ich komme jeden Sonntag«, sagte sie
plötzlich laut.
    »Nur, wenn ich singe. Das nächste Mal
zu Pfingsten.«
    »Ich weiß, wann du singst. Ich kann
dich hören.«
    »Wirklich?«
    »Natürlich. Selbst wenn zwanzig andere
Stimmen singen.«
    »Woran erkennst du mich?«, fragte ich.
    »Sei nicht so dumm. Ich weiß es eben.«
Sie sah auf mein Auge und lächelte warmherzig. »Ich muss jetzt gehen.« Sie
reihte sich in den Fluss der Kirchgänger ein und verschwand durch den
Nordeingang.
    Als ich mich zu Pfingsten an die Säule
schmiegte, um nicht von den Mönchen entdeckt zu werden, und mein Auge an die
Pforte presste, war sie da wie versprochen und sagte zu ihrer Tante, sie würde
wieder vor dem Heiligen beten. Ein zustimmendes Nicken von Karoline.
    »Ich habe dir doch gesagt, dass ich
kommen würde«, sagte sie.
    Wir unterhielten uns dreißig Sekunden,
dann war sie fort. Dasselbe beim nächsten Mal, als ich sang, und über viele
Monate jeden Sonntag danach. Aus Angst, ertappt zu werden, unterhielten wir uns
niemals lange, und obwohl ich sie vollständig sehen konnte, sah sie nicht mehr
von mir als ein einziges Auge und Teile meiner schwarzen Chorrobe.
    »Sie ist so eine Hexe«, zischte Amalia
eines Sonntags hinter dem Rücken ihrer sich entfernenden Tante. »Jetzt sagt
sie, ich darf nicht zu Fuß zur Kirche gehen.«
    »Warum nicht?«, fragte ich.
    »›Ein Mädchen in deinem Alter sollte
nicht auf der Straße sein, nicht einmal in Begleitung.‹ Soll ich etwa mein
Leben im Haus oder in einer Kutsche verbringen? Mit ihr? ›Ich mache dich zu
einer Dame‹, sagt sie, ›und wenn es mich umbringt.‹ Das ist meine größte Hoffnung. Wenn doch jeder
Dreckfleck auf meinem Kleid ihr Leben um eine Stunde verkürzen würde! Sie ist
nur böse, weil sie eine alte Jungfer ist, aber das heißt nicht, dass sie mich
zu der Dame machen kann, die sie gerne gewesen wäre.« Ihr Gesicht war rot vor
Wut.
    »Ich glaube, du bist schon eine Dame«,
sagte ich.
    Sie biss die Zähne zusammen, aber das
Lachen kam prustend aus ihrer Nase. Sie kämpfte gegen ihre Verlegenheit an.
»Woher willst du das wissen?«
    Damals antwortete ich nicht, aber ich
sah jede Woche, dass es stimmte: Sie wurde eine Dame. Das Gold ihres Haares war
jetzt ein wenig dunkler. Sie war größer geworden. Mein Kopf hätte nicht mehr an
ihre Schulter gereicht, denn ich war ein Kümmerling. Ich war nicht mehr als
einen Zoll pro Jahr gewachsen, seit Karl Victor mich in den Fluss geworfen
hatte. Ich hatte ihr bei unseren Begegnungen so wenig zu erzählen, sie dagegen
so viel. »Sie versucht schon seit Jahren, ihm sanft auf die Sprünge zu helfen«,
erzählte sie eines Sonntags während der Fastenzeit, »aber gestern wurde sie so
wütend, dass sie es unverblümt ausgesprochen hat: ›Es ist Zeit, Willibald.
Zeit, dass du eine Frau findest.‹ Vater war schockiert! Als hätte er einen Dieb
dabei erwischt, wie er die Hand in seinen Safe steckte. Er sah über den Tisch,
erst auf mich und

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