Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells
morir, o
lasciatemi morir!
»Zusammen!« Er schloss die Augen und
wedelte mit den Armen.
O cessate di piagarmi, o lasciatemi morir, o
lasciatemi morir!
Als ich die Worte alleine wiederholte,
improvisierte Nicolai, und dann sang er eine einfache Bass-Tonfolge, als ich
improvisierte. Wir sangen dieselben Worte wieder und wieder, jedes Mal weiter
vom Original entfernt, bis nur noch die Worte dieselben blieben. Das Lied
handelte nicht mehr von der Liebe; jetzt handelte es von der Musik, von der
Macht der Musik. Eine Macht wie Zeus’ Blitzschlag.
Nicolai sang allein.
Wir sangen zusammen.
Ich sang allein.
Nicolai lachte, als ich trillerte. Ich
dehnte jedes Wort auf zehn, zwanzig Noten aus, und es dauerte eine Minute, die
Wortfolge zu singen. Nicolai schüttelte den Kopf vor Bewunderung. Obwohl Remus auf
dem Sprung stand, als wolle er gleich aus dem Raum laufen, heftete er seinen
Blick auf mein Gesicht, und sein Mund stand ein wenig offen. In diesem Moment
wurde mir klar, dass außer Ulrich niemand die wahre Macht meiner Stimme kannte.
In der Kirche bändigten mich die zahmen sakralen Gesänge. Jetzt fühlte ich die
Macht dieser italienischen Musik, die sogar noch mächtiger war als Bachs Musik.
Ich zog einen Atemzug in meine enormen Lungen und sang. Meine Stimme schwoll
an, als ich in die Höhe kletterte. Nicolais Spiegel klirrte von den
Vibrationen. Ich sang lauter. Ich wollte jedes Fenster in der Abtei mit der
Schönheit meines Gesangs zerbrechen lassen. Ich atmete wieder, und meine Stimme
ging zurück, dann schwoll sie wieder an und ging nach oben, bis ich einen so
hellen und klaren Ton fand, wie ich ihn noch nie gesungen hatte. Ich hielt ihn
und meine Stimme erzeugte leise Klangwellen innerhalb der größeren Woge, bis
der Riesenatem aufgebraucht war.
Ich hielt ein und schnappte nach Luft.
Es dauerte mehrere Sekunden, bis meine Stimme in der Nacht verhallte. In der
Stille, die darauf folgte, konnte ich in den Gesichtern meiner Freunde deutlich
sehen, dass sich mein Leben innerhalb eines Augenblicks komplett verändert
hatte.
Nicolai lächelte nicht mehr. Er hielt
sich die Hand vor den Mund. Sein Gesicht war so weiß, als hätte er einen Geist
gesehen. »Gott möge uns vergeben«, sagte er.
Remus starrte auf den Fußboden.
»Was?«, fragte ich. »Was ist los?«
Aber ich wusste bereits, was los war, wusste es, obwohl ich es überhaupt nicht
verstand.
Nicolai hatte Tränen in den Augen.
»Wieso war ich ein solcher Narr?«, fragte er.
Remus sah auf mich, und seine Augen
schienen zu sagen: Moses, wir müssen aufhören, uns
etwas vorzumachen. Und dann sah er wieder
auf den Boden.
Nicolai starrte mich an, als würde
sich mein Körper in Nebel auflösen. Er machte einen Schritt auf mich zu und
streckte die Hand aus.
Ich wich vor ihm zurück. Ich fühlte
mich wie ein in die Enge getriebenes Tier, gerade so, als könnte ich schon die
Fangzähne in meinem Hals spüren.
Nicolai machte einen Satz. Sein
riesiger Körper drückte mich gegen die Wand. Er roch nach Wein.
»Nein!«, schrie ich. Ich schüttelte
verzweifelt den Kopf.
»Es tut mir leid, Moses«, sagte er.
»Ich brauche Gewissheit.« Er zog mein Hemd hoch.
Ich versuchte ihn wegzuschieben, aber
er war zu stark. Ich spürte seine Hände an meiner Unterwäsche, und als ich in
seinem Griff zappelte, riss er sie weg und ich stand plötzlich unbedeckt da.
Mehrere Sekunden lang bewegte sich keiner der beiden Mönche; dann ließ Nicolai
mich los. Er hielt mir seine zitternde Hand entgegen, als wolle er sich für den
Angriff entschuldigen. Sein Atem war abgerissen. Er kniff seine
blutunterlaufenen, müden Augen zusammen und blinzelte, als wolle er seine
benebelte, betrunkene Sehkraft dazu bringen, ihm zu gehorchen.
Remus stand hinter Nicolai. Er legte
seine Hand auf die Schulter des größeren Mannes. »Nicolai«, sagte er, »du …«
Nicolai schlug die Hand weg. Er atmete
mehrmals langsam ein. Dann sah er mir tief in die Augen. Obwohl ich wusste,
dass die Wut in seinem Blick nicht mir galt, fand ich sie erschreckend. »Wer
hat das getan?«, flüsterte er.
»Nein, Nicolai«, sagte Remus, so ruhig
er konnte.
»Moses, du musst es mir sagen. Sag es
mir jetzt.«
Remus ergriff Nicolais Arm mit beiden
Händen. In all der Zeit, in der wir zusammen gewesen waren, hatte ich nie
gesehen, dass er Nicolai auf diese Weise berührte. »Bitte, Nicolai«, sagte er.
Er schüttelte den Arm. »Nicolai! Bitte!«
Nicolai packte mich plötzlich an den
Schultern. »Ulrich? War
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