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Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells

Titel: Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Harvell
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gedrückt.
    »Würdest du es gerne sehen, Moses?«,
fragte er, und hinter seiner Freundlichkeit hörte ich eine Drohung wie das
leise donnernde Trommeln eines Tympanons. Als er auf mich zukam, hoffte ich
jedoch, dass er mir vielleicht zum Abschied ein Friedensangebot machen wollte.
Ich ging ihm entgegen. Er lächelte und hielt mir das Stück Papier hin.
    Es war eine Bleistiftzeichnung. Die
Ränder waren fettig, weil sie durch unzählige Jungenhände gegangen war. Sie
zeigte eine Frau, die nackt auf einem Bett lag, die Beine weit geöffnet, sodass
eine dunkle Höhle enthüllt wurde. Ihre Augen waren unmöglich groß. Sie starrten
sehnsuchtsvoll auf einen Mann, der über ihr stand und aus dessen Leib ein
riesiger praller Penis ragte. Daneben hingen Hoden wie Melonen in einem Beutel.
    Die Röte kroch mir über den Hals und
brannte in meinen Wangen. Die Jungen gackerten, als sie meinen schockierten
Gesichtsausdruck sahen. Sie lehnten sich aneinander, um nicht umzufallen,
während sie lachten. Natürlich hatte ich früher schon gehört, wie sie über so
etwas flüsterten, aber es hatte mir nie so deutlich vor Augen gestanden.
Scheinbar stundenlang hielt Feder mir das Bild hin, aber trotzdem konnte ich
meinen Blick nicht von dem Mann abwenden, von seinem Glied, von dem schwarzen
Loch zwischen den Beinen der Frau. Schließlich riss ich mich los und blickte
auf den Boden.
    »Willst du es nicht noch ein bisschen
angucken?«, flüsterte Feder mit grausamer Stimme.
    Das wollte ich. Natürlich. Obwohl ich
wusste, dass ich ihnen mein lebhaftes Interesse nicht zeigen durfte.
    »Du hast wohl noch nie eine nackte
Frau gesehen? Weißt du überhaupt, was das da ist?«, fragte Feder sehr langsam,
als spräche er zu einem Idioten. Er zeigte zwischen die Beine der Frau, und die
Jungen hinter ihm brachen in nervöses Gelächter aus.
    Ich zwang mich, wieder auf den Boden
zu sehen. Ich spürte ihre Blicke auf mir wie Stöcke, die mich antrieben. »Oder
vielleicht«, sagte er und drehte sich jetzt um, um mit den Jungen zu reden,
»vielleicht interessiert sie ihn ja gar nicht. Vielleicht mag er den Mann
lieber.«
    Das Gelächter hatte aufgehört, es war
jetzt ganz still.
    Ich blinzelte, und der Fluss meiner
Tränen schien mir so laut zu sein, dass ich sicher war, alle Jungen könnten
meinen Jammer hören.
    »Ich verlasse die Abtei heute«, sagte
Feder schließlich so leise, als spräche er nur zu mir. »Ich bin sehr glücklich,
dass ich nie wieder mit jemandem wie dir in einem Chor sein muss. Ich hatte
allerdings gehofft, noch ein wenig länger bleiben zu können – bis du endlich
verschwindest. Ich hätte diese Abtei gerne so gesehen, wie sie früher war. Ohne
dich. Ohne diese beiden dreckigen Mönche, die deine einzigen Freunde sind.«
    Ich wusste, dass Nicolais und Remus’
Geheimnis schon lange durchgesickert war und dass die Abtei davon wusste. Die
Jungen hatten über sie geflüstert, aber jetzt sprach zum ersten Mal jemand laut
darüber. Meine Beschämung durch die Zeichnung und auch die Liebe zu meinen
Freunden brachen sich in Wut Bahn. Ich riss Feder das Bild aus der Hand und
zerriss es in zwei Hälften. Ich riss es noch einmal auseinander, als er mich
niederschlug, aber dann verlor ich die Papierfetzen, denn er gab mir einen
Fußtritt.
    Die Stille war gebrochen. Die Jungen
umringten uns, und ich hörte den Hass in ihren Stimmen, als sie Feder
anfeuerten, er solle »den Hund treten«. Er gab sich redlichste Mühe. Blut
strömte aus meinem Mund, bis ich sicher war, dass ich nie wieder atmen würde. Und
die ganze Zeit, als seine Wut jede Vernunft zu übersteigen begann, hörte ich
sie höhnen: »Tritt ihn, Feder! Er muss es endlich verstehen! Zahle es ihm
heim!«
    Was denn?, versuchte ich zu rufen. Was soll er mir denn
heimzahlen?
    Am nächsten Tag war er fort. Ich blieb
in der Abtei, der älteste, talentierteste, aber am wenigsten geschätzte
Chorknabe. Mein Leben, so schien es mir damals, würde sich niemals ändern.

IV.
    Ein Jahr nach Frau Dufts Tod
begann ich zu wachsen.
    Es war, als ob alles, was ich in
Nebelmatt erbeutet hatte, alle Sankt Gallener Lammhaxen, all der Speck, all der
Hammel, all der Käse, die Mandeln, die Milch, der Apfelwein lediglich in meinem
kleinen Körper gelagert worden wären und ich ganz plötzlich diese versteckte
Nahrung entdeckt und schließlich benutzt hätte, um aus allen Nähten zu platzen.
    Es begann eines Tages während der
Chorprobe als dumpfer Schmerz in meinen Händen und Füßen. Der Schmerz

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