Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells
dann auf sie. ›Eine Frau?‹, sagte er. ›Eine Frau? Nein,
Karoline. Ich werde nicht wieder heiraten. Nie.‹ Und als sie ihn ermahnte,
schrie er – er hat noch nie so geschrien: › Ich werde
nicht wieder heiraten! Sprich nie wieder
davon.‹«
Amalia erzählte mir, dass ihr Vater
nur noch reicher geworden war. »Euer schrecklicher Abt hat ihn sogar in unserem
Haus besucht! Ich wollte mich in meinem Zimmer verstecken, aber Karoline hat
mich gezwungen, brav an ihrer Seite zu sitzen.«
Und dann, als das nächste Pfingsten
gekommen und gegangen war: »Ich kann es nicht mehr aushalten, Moses. Ich hasse
dieses Haus. Es ist das reinste Gefängnis. Ich habe meinen Vater gefragt, ob
wir verreisen können. Irgendwohin, egal wohin. Ich würde sogar mit Karoline
fahren, aber diese Hexe weigert sich, es auch nur in Erwägung zu ziehen. ›Bald
wirst du verheiratet sein‹, sagt sie, ›und dann kannst du eine Reise machen: in
das Haus deines Ehemanns.‹«
Mein Leben hingegen veränderte
sich gar nicht, selbst als die Welt in meiner Umgebung sich veränderte. Neue
Jungen für den Chor trafen ein, um jene zu ersetzen, deren Stimmen gereift
waren. Feder gehörte zu denen, die den Chor bald nach Frau Dufts Tod verließen.
Eines Tages probten wir ein neues Duett, und alle anderen Jungen sahen voller
Schrecken zu, als Feder und ich uns in komplizierten Läufen in die Höhe
schwangen und Feders Stimme immer wieder stockte und meiner nicht folgen
konnte.
»Er macht es falsch«, sagte Feder
beleidigt zu Ulrich, und die Jungen, die auf dem Boden saßen, nickten alle mit
weit aufgerissenen Augen, weil sie das Unvermeidliche nicht akzeptieren
wollten.
»Moses singt es vollkommen richtig«,
sagte Ulrich tadelnd. »Wie immer.« Er lächelte mich an, und ich zuckte
zusammen, weil ich wusste, dass ein solches Lob nur bewirkte, dass die Jungen
mich umso mehr hassten.
»Dieses Mal macht er es aber falsch«,
behauptete Feder.
»Dann singst du eben allein«, bot
Ulrich an. Wir blickten alle auf Feder, dem die Röte in den Hals stieg, als er
zu singen begann. Die Jungen ballten die Fäuste und nickten tapfer, als wollten
sie ein Pferd anfeuern. Er kletterte in die Höhe, seine geschmeidige Stimme
schnitt jede Note an, und dann stolperte er wieder, er konnte die Note nicht
erreichen. Er zwang seine Stimme, und alle Jungen wichen zurück, als sie in ein
Kreischen umschlug. Stille trat ein. Feder drehte sich zu mir um, hob einen
Finger in die Höhe, und ich duckte mich weg, aber ihm fiel keine passende Beleidigung
ein. Er stolzierte aus dem Raum.
Er war noch mehrere Tage bei uns, sang
leise im Hintergrund und funkelte mich unentwegt an. Am Tag von Feders letzter
Probe bat Ulrich mich, mit den Jungen Tonleitern zu üben, die für mich so
natürlich und klar waren wie Farben für einen Maler. Zwei Minuten lang hörte
der Chormeister zu, als ich sang und die anderen Jungen mir im Chor nachsangen.
Feder sang nicht mit. »Macht weiter, bis ich wiederkomme«, sagte Ulrich und
verließ den Raum.
Wie üblich zerbröckelte die Hierarchie
des Talents im selben Augenblick, in dem er verschwunden war. Noch bei zwei
oder drei Tonleitern ahmten die Jungen meine Noten nach, wenn auch weniger
enthusiastisch, und dann fingen sie an umherzulaufen, bis ich schließlich
alleine sang.
Meine Stimme stockte, und ich stand
stumm vor ihnen wie ein entthronter König. Sie sahen mich nicht an, aber ich
spürte, dass sie mich verabscheuten. Während die Jungen sich um Feder scharten,
wurde ich gewahr, dass meine Stimme in all ihrer Vollkommenheit in der größeren
Welt nichts bedeutete, in einer Welt, in die der vornehme Feder bald
zurückkehren würde und in die auch ich eines Tages geworfen werden würde,
hilflos und unzulänglich, wie ich war.
Dann wandte Feder mir den Rücken zu
und zog etwas unter seinem Hemd hervor, das er auf auffallende Weise vor meinen
Blicken verbarg. Die Jungen drängten sich an ihn heran und verstummten, sobald
sie sahen, was er in der Hand hielt. Einer oder zwei blickten nervös zu der
Tür, durch die Ulrich bald zurückkehren würde, aber die meisten konnten ihre
Augen nicht von Feders geheimnisvollem Schatz abwenden. Ich wagte es nicht,
mich der Gruppe zu nähern, obwohl ich natürlich vor Neugier brannte. Sicher war
das, was er in der Hand hielt, gegen mich gerichtet!
Nach mehreren Minuten, in denen die
Jungen drängelten wie Schweine am Trog, wandte sich Feder an mich, ein kleines
Stück Papier an die Brust
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