Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells
völlig allein.«
Nicolai schüttelte den Kopf. Er stand
jetzt so nahe bei mir, dass ich sehen konnte, wie Tränen in seine Augen
stiegen. »Moses, ich habe geschworen, dass ich dich beschützen würde.«
»Eines Tages folge ich euch«, sagte
ich. »Ich verspreche es.«
Remus war an meiner Seite. »Wir gehen
nach Melk«, flüsterte er mir ins Ohr, sodass der Abt es nicht hörte. »In
Österreich. Du wirst immer Freunde haben, solange wir leben. Wir warten auf
dich. Komm.«
Ich nickte ihm zu, biss mir auf die
Lippe. Remus nahm Nicolais Arm, aber der größere Mann wehrte ihn ab. Er
schüttelte den Kopf, die Augen weit aufgerissen.
»Nicolai«, sagte ich. Sein Widerstand
schien zu brechen, und plötzlich umarmten wir uns. In diesem Augenblick, acht
Jahre, nachdem er mich aus dem Fluss gezogen hatte, reichte mein Kopf über
seine Schulter, und als er mich drückte, spürte ich seine warmen Tränen auf
meiner Stirn.
»Es tut mir so leid«, sagte er.
»Ich … ich werde zu euch kommen«,
flüsterte ich zurück. Ich ergriff den Stoff seiner Kutte. Er umarmte mich
fester, und ich wusste, dass er mich nie loslassen würde, wenn ich nicht
handelte, und deshalb stieß ich ihn sanft weg. Dann beförderte Remus ihn zur
Tür, und ohne noch einmal auf den Abt zu blicken, gingen sie. Später würde ich
in ihre Zellen gehen und feststellen, dass sie nicht einmal ihre Sachen
mitgenommen hatten. Nicolai verrichtete kein letztes Gebet in der Kirche. Remus
nahm kein einziges Buch mit.
Keiner der beiden würde je nach Sankt
Gallen oder in die Schweizerische Eidgenossenschaft zurückkehren.
Ich blieb allein mit Abt Coelestin
Gugger von Staudach zurück. Er starrte in die Kerze, deren Flamme in diesem
Moment so vollkommen leuchtete wie die Welt, die er stets in seiner Abtei zu
verwirklichen trachtete. Nach mehreren Minuten sah er zu mir auf. Seine Augen
hatten die Kälte, den Hass abgelegt.
»Komm her, mein Sohn«, sagte er. Er
nickte freundlich, als wolle er sagen: Das ist jetzt
alles vorbei.
Ich zögerte nur einen Augenblick.
Obwohl ich ihn abstoßend fand, hatte ich jetzt außer ihm niemanden mehr auf der
Welt. Ich ging um seinen Schreibtisch herum und stellte mich neben ihn in das
Licht seiner Kerze. Ich senkte den Kopf. Seine Augen glitten über mein Gesicht
und an meiner großen, dünnen Gestalt hinunter.
»Du möchtest mit ihnen gehen, nicht
wahr?«
»Ja«, sagte ich.
Er sah mir fest in die Augen. »Moses,
weißt du, was du bist?«
Ich antwortete nicht.
Er betrachtete mich im flackernden
Kerzenschein, musterte jeden einzelnen meiner Gesichtszüge, dann nickte er
ernst, als wäre er der Überbringer einer furchtbaren Nachricht. Seine Stimme
war wieder ruhig und gemessen. »Mein Sohn, du bist ein Eunuch. Du bist kein
Mann. Und du bist auch keine Frau. Du bist ein Wesen, das Gott nie zu schaffen
beabsichtigt hat, und deshalb stehst du außerhalb von Gottes Entwurf. Sein
Gesetz sagt, dass du nicht heiraten kannst, und du darfst auch nicht Priester
werden. Das ist keine Grausamkeit. Ich denke, wenn du ehrlich bist, erkennst
du, warum es so sein muss. Moses, dein Körper wird dir nicht erlauben, Vater zu
werden. Du bist schwach – du hast die Muskeln einer Frau, wenn auch den
schweren Körper eines Mannes. Du kannst nicht auf dem Feld arbeiten. Und dein
Geist ist ebenfalls schwach. Du wirst niemals männliche Vernunft erlangen.
Haben deine Freunde dir das gesagt, Moses?«
Ich schüttelte den Kopf. Obwohl ich
noch nie gehört hatte, dass jemand diese Dinge aussprach, hatte ich mich immer
vor ihnen gefürchtet.
»Sie wollen dir helfen, aber sie
können es nicht. Sie haben kein Dach über dem Kopf.« Er wedelte verächtlich mit
der Hand. »Keine Abtei wird ihnen Obdach gewähren, denn sie sind Sodomiten.
Genau wie ich wird jeder Abt die Sünde aus ihren Gesichtern ablesen und sie
wegschicken. Du könntest ihnen folgen, und ihr würdet zusammen verhungern. Nur
dass sie Männer sind, Moses, und du bist keiner. Die Menschen außerhalb dieser
Mauern werden dich auslachen. Hier sind wir durch den langsamen Fortschritt der
Veränderungen an dir getäuscht worden. Jetzt erst erkenne ich sie deutlich an
deiner Gestalt. Du bist ein Unfall der Natur, ein Ergebnis der Sünde, nicht der
Gnade.«
Der Abt sah an mir vorbei und suchte
in den dunklen Ecken seines Büros nach einer Berechtigung meines Daseins. Er
schüttelte den Kopf. »Es ist so misslich, Moses«, sagte er. »So misslich. Die
Welt ist einfach nicht für solche wie dich
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