Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells
Gespräch von drei Mönchen mit und mir
wurde klar, dass sie mein dunkles Geheimnis für ein ganz anderes hielten. »Ein
Junge bringt eine solche Schande selbst über sich«, behauptete einer der
Mönche. »Bruder Ulrich hat sich in Versuchung führen lassen und hat wirklich
schwer gesündigt, das kann keiner von uns leugnen. Aber dieser Junge war nie
für unsere Abtei bestimmt. Er ist eine Schlange an unserem Busen. Ich vermute,
er wollte … er wollte … gestreichelt werden.« »Tag für Tag, Nacht für Nacht«, stimmte ihm
einer der anderen zu. »Ulrich musste so viel Zeit allein mit dem Jungen
verbringen; er ist ganz einfach verführt worden.«
Die Tage reihten sich unterschiedslos
aneinander. Solange ich meine Leidenschaft für Laute unterdrücken konnte,
betäubte das meine Qualen, und dann schmerzte mich nur noch die Einsamkeit. Ich
dachte oft an Nicolai und Remus und wünschte mir, es gäbe eine Möglichkeit, zu
erfahren, wie es ihnen ging.
Die anderen Novizen verhielten sich
nicht grausam wie die Chorknaben, sondern verächtlich. Sie übergingen mich
einfach. Ihre Väter zahlten eine hübsche Summe, damit sie werden konnten, was
ich nur aus Mitleid geworden war. Sie hielten mich für einen Dummkopf – eine
Meinung, die ich nicht zu widerlegen versuchte. Stattdessen ließ ich das
Fenster meiner Zelle offen und hoffte, dass Tauben in den Deckenbalken nisten
und mir Gesellschaft leisten würden. Aber sie kamen nicht.
Ich erreichte meine endgültige Größe:
einen Kopf größer als die anderen Mönche. Meine Rippen wuchsen und wuchsen.
Unter ihnen dehnten sich meine Lungen weiter aus – »die größten Lungen
Europas«, wie ein Londoner Kritiker viele Jahre später prahlen würde. Aber
meine große Statur und meine gewölbte Brust erschienen niemandem in der Abtei
als majestätisch oder imposant, denn ich nahm eine gebückte Haltung an und war
blass und kränklich. Meine Augen waren vom Schlafmangel dunkel umrandet, denn
ich hatte Angst, sie zu schließen. Wenn ich es tat, träumte ich von den Glocken
meiner Mutter, von Nicolais Gesang oder von meiner eigenen Stimme, die bis in
meine Finger widerklang, und dann tat das Erwachen unsäglich weh.
Es gibt nur ein einziges Ereignis
in diesem ersten Jahr nach der Verbannung meiner Freunde, von dem ich berichten
muss. Es war ein Sonntag im Winter. Die Messe war zu Ende, und auf beiden
Seiten des Gitters, das das Kirchenschiff in zwei Teile schnitt, strömten die
Laien und die Mönche aus der Kirche. Ich blieb auf meinem Platz im Chorstuhl
der Novizen, wo ich von einer der großen weißen Säulen verdeckt wurde.
»Moses!«
Die vertraute Stimme schien in meinem
Kopf zu rufen. Sie erfüllte mich mit einer plötzlichen Wärme, wie ich sie in
letzter Zeit nur noch in meinen Träumen verspürt hatte. Bevor ich mich dafür
bestrafen konnte, dass ich diesen Klang genoss –
»Moses!«
Die Stimme war wirklich, denn andere
Mönche drehten sich zur Absperrung hin.
Ich spähte um die Säule herum. Amalia
stand am Gitter, die Hände um die Eisenstäbe und die goldenen Weinreben
geklammert, als habe sie die Absicht, es niederzureißen. Die Verzierungen waren
hier nicht so kunstvoll gearbeitet wie an der Pforte, und deshalb konnte ich
ihr Gesicht sehen, als sie es an eine Lücke nach der anderen hielt und meinen
Namen vor den erstaunten Mönchen wiederholte. Sie achtete nicht auf die schockierten
Gesichter. Es war gerade so, als suchte sie mich in einem Wald unbeweglicher
Bäume.
»Moses? Bist du da?«, rief sie wieder,
sodass alle Ohren in der Kirche es hören konnten. Ich hörte, dass sich hinter
ihr die Stimme ihrer Tante Karoline erhob, die sich in dem Versuch durch die
Menge schob, den Namen Duft vor ewiger Schande zu bewahren.
»Bitte, Moses«, rief Amalia. »Bist du
da?«
Sie hatte mich nicht vergessen. Ich
fühlte, wie die Hoffnung in mir erwachte. Ich wollte ans Gitter rennen. Ich
wollte die Hand meiner Freundin berühren.
Sie glitt am Gitter entlang, weg von
ihrer Tante, sah in jedes Gesicht, das ihr entgegenstarrte, um unter den
Kapuzen den Jungen zu finden, den sie gekannt hatte. Ich begann die Säule zu
umrunden.
Und plötzlich war er da, hatte die
Hand auf meine Schulter gelegt. Ich drehte mich zu ihm um. Mit der Abtsmitra
war sein Kopf so hoch wie meiner.
»Denk daran, was du bist, Moses«,
flüsterte er. »Du wirst nichts als Schande über sie und die Abtei bringen.«
Ich senkte den Kopf. Er beobachtete
mich noch einen Moment, bevor er davonglitt.
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