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Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells

Titel: Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Harvell
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Diese
Welt ist nicht für dich. Lass dich nicht von ihr verleiten! Die Geräusche würden nur dazu führen, dass ich mich
nach mehr sehnte, dass ich mich nach den Geheimnissen außerhalb dieser Mauern
sehnte, nach Freunden, nach Liebe, nach den Glocken meiner Mutter, nach Nicolai
und Remus, und das Schlimmste war: Ich würde mich danach sehnen, wieder singen
zu dürfen.
    Und so begann der unglücklichste
Abschnitt meines Lebens. Ich durfte die Abtei nicht verlassen, durfte mich
nicht einmal auf den Abteiplatz hinauswagen, wo ein zufällig vorbeikommender
Laie mein unvollkommenes, engelsgleiches Gesicht erblicken könnte. Während der
Gottesdienste und Messen saß ich im Chorstuhl der Novizen, und zwischen mir und
dem Hauptschiff stand eine Säule. Nie erhob ich meine Stimme, um zu
psalmodieren oder zu singen, ich erlaubte meinen stummen Gebeten nicht einmal,
in meinem Kopf zu erklingen und eine Erinnerung an das zu erwecken, was meine
Stimme einmal gewesen war. Ein- oder zweimal dachte ich daran, was meine
Freundin Amalia gesagt hatte: »Ich kann dich hören. Selbst wenn zwanzig andere
Stimmen singen.« Ich träumte davon, sie inmitten des Gesangs der anderen zu
rufen; ich war sicher, dass Staudach mich nicht hören würde. Aber die Scham
ließ mich schweigen. Der Pforte näherte ich mich nie wieder.
    Staudach hatte mir die Möglichkeit
eröffnet, eines Tages mein Gelübde abzulegen, und so kleidete ich mich in den
Habit der Novizen, der dem der Mönche gleicht, aber keine Kukulle mit Kapuze
hat. (Ach, wie sehr ich mich nach einer Kapuze sehnte, um mein Gesicht zu
verstecken!) Normalerweise hätte das bedeutet, jeden Tag mit den anderen
Novizen unter Anleitung des Novizenmeisters Bruder Leodegar zu lernen, aber
vielleicht befürchtete der Abt, ich würde die Reinheit dieser Gruppe
beschmutzen, denn er beschloss, dass ich ein unausgebildeter Laienbruder werden
sollte. Ich würde weder Vergil noch Thomas von Aquin benötigen, nur Gehorsam
und Unterwerfung.
    Seit vielen Jahren war in der Abtei
kein Novize mehr auf diese Weise herangezogen worden, aber Staudach behauptete,
dass ich niemals ein moderner Mönch werden würde, einer, der durch
Gelehrsamkeit und Frömmigkeit der Welt etwas zurückgeben könnte. Bestenfalls
würde ich wie Sankt Gallus selbst werden: einsam, bescheiden, ein Eremit.
    Wie jeder Mönch gegen seine
Leidenschaften kämpft, kämpfte ich während dieser ganzen Zeit gegen den Klang.
Wenn ich das köstliche Plätschern des Brunnens im Kreuzgang hörte, schlug ich
es mit Gebeten nieder. Wenn im Refektorium Fleisch brutzelte, fastete ich. Wenn
vor den Mauern der Abtei die fröhlichen Rufe von Kindern erklangen und ich in
der Wärme ihres Entzückens hätte baden können, verbannte ich mich selbst in
einen leeren Keller und betete den Rosenkranz. Wenn meine Ohren dem
verführerischen Gesang des Windes auf den Dachziegeln über meinem Zimmer
nachgeben wollten, grub ich meine Fingernägel in die Haut meiner Hand oder zog
an dem flaumigen Haar in meinem Nacken. In einem Schrank fand ich ein modriges,
härenes Hemd, und seine kratzigen Fasern lenkten mich während der Chorgebete
von der Schönheit der Gesänge ab. Ich lauschte den Beichten anderer Männer,
hörte von den unbezähmbaren Leidenschaften, die in ihren Lenden wüteten, und
wenn ich an die Reihe kam, wiederholte ich, was ich belauscht hatte, und
hoffte, dass ich mit Hilfe dieser Täuschung vielleicht Absolution für meine
eigenen klanglichen Sünden erhalten konnte.
    Auf diese Weise verging ein Jahr, dann
ein weiteres. Wie Staudach versprochen hatte, blieb mein Zustand ein Geheimnis.
Meine Sprechstimme war hoch und weich, aber viele Männer haben weinerliche oder
piepsige Stimmen, sodass ich mich nicht verriet. Meine Erscheinung war zwar
auffällig, erweckte aber kein Misstrauen bei den Mönchen, die mich seit Jahren
kannten.
    Ein neuer, mittelmäßiger Chormeister
ersetzte den hervorragenden Ulrich. Er hieß Bruder Maximilian und sprach nie
mit mir. Keiner wagte es, offen über den früheren Chormeister zu reden, aber
ich hörte Getuschel. »Der Abt hat ihn in ein Hospital in Zürich geschickt. Er
wird sein Bett nie wieder verlassen«, sagte ein Mönch. »Ich habe gehört, dass
er tot ist«, flüsterte ein anderer. Aber wenn die Mönche meinen Blick
bemerkten, sahen sie scheu auf ihre Füße. Zuerst verstand ich nicht, was diese
schamhafte Stille zu bedeuten hatte, aber eines Tages, als ich leise über einen
Korridor ging, hörte ich zufällig ein

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