Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells
in
seinem Büro gestanden hatte, der Kümmerling, den er verbannen wollte.
»Sprich!«
Wir schwiegen. Die Kerze zischte.
Staudach atmete. Er sah zu Nicolai. »Ihr lasst mir keine Wahl«, sagte er.
Nicolais Hände zitterten.
»Ulrich hat mich kastrieren lassen«,
sagte ich.
Ich fühlte, wie die Augen des Abtes
langsam über jeden meiner Gesichtszüge glitten. Auf seinem Gesicht erschien
erst Unglauben, dann Entsetzen. Endlich verstand er, warum meine Stimme so
lange durchgehalten hatte.
»Kastrieren?«, flüsterte er. Meine
Freunde starrten auf die Kerze, die auf dem Schreibtisch brannte.
»Wo?«
Sie antworteten nicht.
Er wandte sich an mich. Sein Hals war
wie zugeschnürt, er hatte Mühe beim Ausatmen. Er spuckte seine Worte aus:
»Sprich! Wo! War es in dieser Abtei?«
Ich wollte so gerne stark sein, aber
meine Knie zitterten, als würde der Boden unter mir beben.
Der Abt erhob sich und stand drohend
über der Kerze. »Du bist ein Kastrat? Ein Eunuch?«
Ich nickte. Das Gesicht des Abtes war
so weiß wie der Stein seiner Kirche. Das Kreuz auf seiner Brust schimmerte im
Kerzenlicht.
»Seit wann?«
»Seit der Einweihung der Kirche.«
»Aber das war vor fünf Jahren«, sagte
Staudach mit wachsendem Schrecken in der Stimme.
Ich nickte.
»Gott sei uns gnädig«, flüsterte er.
Mehrere Sekunden lang bewegte er sich überhaupt nicht. Er starrte an uns
vorbei. »Tod dem Kastrierer«, rezitierte der Abt. »Exkommunikation aller, die
dabei helfen. Das ist das Gesetz. Mein Gesetz. Das Gesetz des Papstes. Es ist das Gesetz Gottes. «
Als er merkte, dass er die Stimme erhob, räusperte er sich und flüsterte: »Ein
Junge wurde kastriert. In meiner Abtei!« Die Farbe kehrte in sein Gesicht
zurück. Wütend funkelte er Nicolai an. »Ich wollte ihn nie hier haben. Ich habe
versucht, ihn wegzuschicken, aber Ihr habt mich nicht gelassen. Und dann dies.
Während der Nuntius hier schlief? Achtzehn Äbte! Sie alle haben dich singen
hören! Sie werden glauben, dass ich es befohlen habe. Dass ich das Messer
gehalten habe. Sie könnten mich exkommunizieren. Mich!« Der Abt griff nach dem
Kreuz, das an seiner Brust hing.
»Sie brauchen es niemals zu erfahren,
Abt. Wir gehen fort«, sagte Remus und trat einen Schritt vor. »Noch heute
Nacht.«
»Ja«, sagte Staudach, nickte und sah
durch Remus hindurch auf einen fernen Schatten. »Ja, das müsst Ihr. Ihr und
Nicolai, alle beide.«
»Und der Junge.«
»Nein!«, sagte Staudach. Er streckte
die Hand aus, als wollte er mich ergreifen. Nicolai umklammerte meinen Ärmel
und zog mich zurück. »Nein, er muss hierbleiben«, fuhr der Abt fort und zeigte
mit einem zitternden Zeigefinger auf Nicolai und dann auf Remus. »Ihr, Ihr
müsst beide fortgehen. Ihr seid verbannt. Wenn Ihr je wieder einen Fuß auf das
Land der Abtei setzt, werde ich Euch wegen Mord und Kastration hängen lassen.«
»Das ist Irrsinn«, sagte Remus.
Der Abt nickte, sein Finger zeigte
jetzt auf Remus’ Brust. »Für diese Verbrechen werdet Ihr beide sterben, wenn
Ihr jemals hierher oder in ein anderes Kloster der Eidgenossenschaft
zurückkehrt.«
Nicolai sprach: »Ich werde Moses nicht
hier zurücklassen.«
»Doch, das werdet Ihr!« Der Abt beugte
sich drohend über seinen Schreibtisch.
»Ich würde lieber sterben.« Nicolai
ging langsam auf den Schreibtisch zu, und ich glaubte, er würde ihn umkippen.
Staudach wich zurück und fiel in seinen Stuhl. Er winselte und hielt eine Hand
in die Höhe, als wolle er sein Gesicht schützen. Nicolai ergriff die Kante des
Schreibtisches.
»Nein«, sagte ich. Alle drehten sich
erstaunt um. »Nein, Nicolai. Ihr müsst gehen.«
Nicolai schüttelte den Kopf. »Nein,
Moses. Das werde ich nicht. Nicht ohne dich.«
»Ich habe es befohlen!«, kreischte der
Abt.
Mit der Kerze in seinem Rücken konnte
ich Nicolais Gesicht nicht klar sehen, und auch Remus neben ihm blieb im
Dunkel, wohingegen ich den wütenden Ausdruck des Abtes deutlich erkannte.
Jahrelang würde ich mich so an sie erinnern: ihre Umrisse, die mutig zwischen
mir und dem Abt standen, ihre Entschlossenheit, eher zu sterben, als mich zu
verlassen.
»Nicolai«, sagte ich.
Er drehte sich um und ergriff meine
Schultern. »Ich werde dich nicht bei ihm zurücklassen«, sagte er, und seine
Stimme war jetzt tief und voll, so furchtlos wie seine Gesänge.
»Du musst«, flüsterte ich mit
tausendmal schwächerer Stimme. »Du hast keine andere Wahl.«
»Ich würde lieber sterben«, sagte
Nicolai.
»Und dann bin ich
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