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Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells

Titel: Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Harvell
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es Ulrich?«
    »Nicolai, lass es«, bat Remus. »Nicht
jetzt. Morgen. Tu nichts Übereiltes.«
    Nicolai schüttelte mich, als hätte ich
kein Gewicht. »Sag es mir, Moses!«, brüllte er.
    Remus’ Augen waren feucht. »Bitte,
Moses«, sagte er. »Antworte ihm nicht.«
    »Ich habe geschworen, ich würde ihn
beschützen«, brüllte Nicolai Remus an.
    »Es ist zu spät«, sagte Remus zu mir.
    »Sag es mir«, drängte Nicolai. In
seinen Augen lag eine Wut, die ich diesem freundlichen Mann nie zugetraut
hätte.
    Ich sah von Remus’ flehendem Gesicht
zu Nicolai zurück. Bitte, sagten die Augen von beiden. Bitte.
    »Ulrich«, sagte ich.
    Nicolai nickte, als er zurückwich.
Remus hielt ihn am Ärmel fest und bat ihn aufzuhören. Nicolai drehte sich um,
und mit einem einzigen mühelosen Schubs stieß er seinen Freund zu Boden. Nicolai
öffnete die Tür, stolperte leicht gegen den Türrahmen und war verschwunden.
    Wir rannten ihm nach, aber obwohl
er so viel getrunken hatte, lief er flink durch die Dunkelheit. Er stolperte
auf dem oberen Teil der Treppe und fiel, war aber schnell wieder auf den
Beinen. Seine Schritte hallten durch die Flure der Abtei, und als wir im ersten
Stock anlangten, sahen andere Mönche neugierig aus ihren Türen.
    »Es ist nichts«, sagte Remus und
scheuchte sie zurück, aber das bewirkte natürlich nur, dass sie uns folgten.
Man hörte ein Poltern aus dem Erdgeschoss. Als wir dort ankamen, sahen wir, wie
Nicolai sich gegen Ulrichs Tür warf. Er prallte mit Getöse von ihr ab, trat
drei Schritte zurück – nahm einen tiefen Atemzug – und brüllte, als er wieder
auf sie zustürzte. Er zerbrach sie mit der Schulter, riss sie aus den Angeln.
Nicolai stampfte in den Raum, der von einer einzigen Kerze erleuchtet war.
    Ulrich war vorbereitet. Er hatte fünf
Jahre auf diesen Moment gewartet und schickte sich an zu fliehen. Der alte Mann
war am Fenster und kletterte vorsichtig auf das Fensterbrett, um dann in den
dunklen Kreuzgang zu springen. Aber Nicolai war schon da, und statt den
Chormeister in den Raum zurückzuziehen, griff er nach ihm – eine Hand am Hemd
und die andere in dem schütteren Haar auf dem Hinterkopf – und warf ihn durch
das offene Fenster.
    Ulrich schrie, als er durch die Luft
flog. Es war ein leerer, seelenloser Schrei. Er prallte auf dem Boden auf, und
ich hörte seine Rippen knacken. Es klang wie eine Violine, die zerbricht. Er
keuchte, als er um Luft rang.
    Der Riese Nicolai folgte ihm durch das
Fenster. Er stürzte vom Fensterbrett, als er mit einem Fuß den Boden suchte,
aber er stand sofort wieder auf. Er stolperte über den Verletzten und begann
ihn zu treten. Ulrich versuchte wegzukriechen, aber Nicolais erster Tritt hatte
ihm den linken Arm gebrochen. Er fiel nach vorne. Sein Gesicht lag im Gras. Er
stöhnte bei jedem Tritt.
    An jedem Fenster stand ein Mönch und
starrte nach unten. Blut rann aus Ulrichs Mund. Er spuckte, wenn er versuchte
zu atmen.
    Ich sah von Ulrichs Fenster aus zu.
Ich wandte meine Augen nicht ab. Die Tritte und Schreie machten mir keine
Freude, vielmehr stieg ein Gefühl der Scham aus meinem Inneren an die
Oberfläche, ein Gefühl, das seit Rapuccis Mitteilung darüber, was er mit mir
gemacht hatte, unbemerkt in mir brodelte. Scham, denn obwohl ich immer noch
nicht genau verstand, was ich geworden war, wusste ich, es war schrecklich,
schrecklich genug, dass dieser Mann es verdiente, dafür zu sterben.
    Neben mir war Remus halb aus dem
Fenster geklettert und flehte Nicolai an aufzuhören, aber der Riese hielt nur
inne, um sich die Tränen wegzuwischen. Nicolai vergrub sein Gesicht in den
Händen und brüllte. »Er war noch ein Kind!«, rief er. »Er war doch noch ein
Kind!« Und dann trat er den kriechenden, weinenden Ulrich wieder – ein
schmerzhafter Stoß für jede zukünftige Freude, die dieser Mann mir gestohlen
hatte. Blut sprudelte aus Ulrichs Mund, als er um Vergebung bettelte, aber
Nicolai konnte nicht vergeben.
    Vier Soldaten kamen in den Kreuzgang
gerannt. Zwei hielten Lampen, und die anderen zogen ihre Schwerter. Aber als
sie sahen, dass es sich nicht um einen Dieb handelte, sondern um Nicolai, den
freundlichsten aller Mönche, erstarrten sie und wussten nicht, was sie tun
sollten.
    Sie riefen ihm zu, er solle aufhören,
und wedelten mit ihren Schwertern, aber er hörte nicht auf sie; er konnte
nicht. Ein Soldat trat vor und erhob sein Schwert, aber dann ließ er es wieder
sinken. Die beiden bewaffneten Männer ließen ihre Klingen auf den

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