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Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells

Titel: Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Harvell
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gemacht.«
    Ich spürte, wie sich eine große
Schwäche aus meinem Inneren heraus ausbreitete, ein Zittern, das drohte, mich
auf die Knie zu bringen. Alles, was er sagte, war wahr. Wie konnte ich es
abstreiten? Im besorgten Gesicht des Abtes erkannte ich zum ersten Mal, dass er
vielleicht doch nicht so kalt und herzlos war. Er war einfach ein Mann, der
hart arbeitete, um eine chaotische Welt in Ordnung zu bringen.
Einhunderttausend Menschen hingen von seiner Führung ab, und Stunden vor der
Morgendämmerung war er jetzt hier und kümmerte sich ganz allein um eine einzige
Seele.
    Seine Augen prüften mich sorgfältig.
»Moses, ich kann dich nicht gegen deinen Willen hierbehalten. Das werde ich
auch nicht. Die Abtei ist kein Gefängnis. Was ich vorher gesagt habe – dass sie
dich nicht mitnehmen könnten –, sagte ich um ihretwillen und um deinetwillen.
Aber jetzt, wo wir allein sind, musst du deine Wahl treffen. Geh, wenn du
willst; vielleicht findest du sie noch. Geh und sage ihnen, dass sie sich um
dich kümmern, dass sie dich mitnehmen sollen. Sie werden dich nicht
zurückweisen. Sie werden einen Weg finden, dich zu ernähren, sie werden einen
Weg finden, dich zu versorgen, selbst wenn es bedeutet, dass sie darunter
leiden.«
    Der Abt schwieg. Er beobachtete mich.
    Gehen? Ich wollte nichts lieber.
Jetzt, da meine Freunde fort waren, spürte ich bereits, wie die einsame Leere
in jeden Winkel der Abtei kroch. Und da draußen waren zwei Freunde, die mich
liebten.
    Immer noch sprach der Abt nicht
weiter. Sein gemessener Atem floss hinein, hinaus, hinein, hinaus.
    »Ich werde dir erlauben hierzubleiben,
Moses«, sagte er schließlich. »In dieser Abtei ist dir ein großes Unrecht
geschehen, und deshalb werde ich tun, was ich kann, um es wiedergutzumachen.
Wenn du dich dafür entscheidest, gewähre ich dir, was ich dir vor Jahren
verweigert habe: die Möglichkeit, Novize zu werden und eines Tages vielleicht
Mönch. Du wirst deine Zelle behalten. Wir werden dich weiterhin ernähren. Ich
sorge dafür, dass du niemandem mit deiner Schwäche Schaden zufügst. Keiner darf
von deinem Makel wissen. Nur ich allein. Moses, du weißt doch hoffentlich, dass
ich dir nichts Besseres anbieten kann. Auch niemand anders kann das.«
    Ich stellte mir Nicolai und Remus vor.
Als ich ihnen begegnet war, hatten sie auf den besten Pferden gesessen und
Nicolai hatte so viele Abteimünzen in der Tasche gehabt, dass er sie Bettlern
auf der Straße zuwerfen konnte. Jetzt aber war alles anders: Mit leeren Taschen
stahlen sie sich zu Fuß durch die Stadt, und Remus hatte nicht einmal ein Buch
zum Lesen. Wie lange würde Nicolais Entschlossenheit andauern? Einen Tag? Eine
Woche? Er war in seinem ganzen Leben noch keine Meile gelaufen. Waren sie jetzt
die Bettler? Gewiss trugen sie auch ohne eine weitere Bürde genügend Lasten,
ohne einen Unfall der Natur, wie der Abt gesagt hatte. Nicolai hatte schon so viel
für mich getan. Meinetwegen war er verbannt worden und hatte sein Zuhause
verloren.
    »Moses«, sagte der Abt. »Du musst dich
entscheiden.«
    Mein Nicken war schwach, aber es
reichte aus.
    »Gut. Aber du musst mir auch etwas
versprechen, Moses.«
    Ich sah in seine schmalen, glänzenden
Augen.
    »Du musst mir versprechen, dass du nie
wieder singen wirst.«

VI.
    Ich besiegelte mein
Versprechen. Er ließ mich vor sich niederknien, sprach ein Gebet, und dann
nickte er freundlich in Richtung Tür. Für mich jedoch war sein Gebet wie eine
Beschwörung, weil alles, was ich hörte, verändert war. Das Knarren der Tür, das
Gleiten meiner Schritte in der leeren Eingangshalle – zum ersten Mal im Leben
konnte ich aus diesen oder anderen Geräuschen keinen Trost schöpfen. Draußen
hing Morgennebel in leblosen Schwaden über dem Gras und verdunkelte den Schein
der Kerzen in den Kirchenfenstern. Ich fiel auf die Knie und erbrach mich ins
Gras, würgte, bis nichts mehr in mir war. Ich weinte, bis auch meine Tränen
erschöpft waren.
    Aber selbst als ich mit den Händen vor
dem Gesicht schluchzte und mir sagte, ich müsse dankbar für das Geschenk des
Abtes sein, strengten sich meine Ohren an: Ich hörte die Mönche in die
Dunkelheit psalmodieren, hörte das Herabstoßen einer Fledermaus, die etwas
jagte, das früh am Morgen dahinflog. Ich kämpfte gegen die Laute an. Ich zog an
dem kalten, feuchten Gras, bis sich ganze Klumpen davon lockerten. Ich krallte
mich in die Erde, bis meine Finger bluteten.
    Nein! Diese Geräusche sind nicht für dich.

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