Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells
Boden fallen,
und alle vier griffen nach den Armen des Riesen. Sie rangen mit ihm, während
der blutverschmierte Ulrich noch einmal versuchte wegzukriechen. Auch die
Mönche versuchten, Nicolai zum Aufhören zu bringen. »Um Gottes willen, du
bringst ihn um!«, riefen sie. Inzwischen war auch der Abt aufgetaucht. Er stand
an einem offenen Fenster und rief den Soldaten von oben zu: »Haltet ihn auf!
Benutzt Eure Schwerter, wenn es sein muss! Haltet ihn auf!«
Aber Nicolai war noch nicht fertig. Er
kämpfte mit den Wachen, wobei er wie ein Wahnsinniger brüllte. Er bekam einen
Arm frei, benutzte ihn aber nicht, um sie abzuwehren, sondern nahm einem der
Soldaten die Lampe ab und hielt sie über seinem Kopf in die Höhe. Seine Augen
leuchteten im Licht auf wie zwei Flammen. Ich wusste, dass seine Wut meiner
Schande galt, die ich all diese Jahre verborgen hatte. Und obgleich alle um
mich herum – Remus, die Mönche, der Abt – laut schrien, war ich still. Ich bat
Nicolai nicht, aufzuhören.
Er schleuderte die Lampe auf den
verletzten Ulrich, der seinen Wunsch zu fliehen aufgegeben hatte. Die Lampe
zerbrach auf dem Boden, und das Öl spritzte auf Ulrichs Gesicht. Seine Augen
starrten mich schreckerfüllt an. Und bevor er die Flamme ausschlagen konnte,
rötete sich sein Gesicht, und dann brannte mein Lehrer. Er schrie.
V.
»Er bittet um Vergebung.«
Remus sprach für den schweigenden
Nicolai, sobald wir mit dem Abt allein waren. Es war inzwischen lange nach
Mitternacht, und der aufgeregte Schreiber des Abtes hatte nur eine einzige
Kerze angezündet, bevor er den Schauplatz geflohen hatte. Sie stand auf
Staudachs Schreibtisch, und die Flamme verlieh dem kleinen Abt eine
übernatürliche Größe. Der Schatten seines Kopfes an der Decke und an der Wand
hinter seinem Schreibtisch war riesig.
»Vergebung?«
Remus nickte.
Staudach schüttelte nervös den Kopf.
»Nicht von mir.«
Ich hörte Mönche in der Kirche
Psalmodien intonieren, sie beteten für Ulrichs Seele und für Nicolais. Niemand
würde in dieser Nacht schlafen. Wir hatten alle gesehen, wie sich Ulrich mit
den Händen ins Gesicht geschlagen und versucht hatte, die Flammen zu ersticken,
die seine Augen und seine Haut auffraßen. Keiner von uns hatte ihm geholfen.
Wir hatten lediglich in stummem Entsetzen zugesehen, bis die Flammen erloschen
waren und er bewegungslos auf der Erde lag. Dann hatten vier Mönche seinen
rauchenden Körper zum Brunnen getragen und ihn mit Wasser übergossen, bis die
Lache rot vom Blut war.
»Wenn er stirbt, werdet Ihr gehängt«,
sagte Staudach.
Obwohl Nicolai stolz und trotzig vor
dem Abt stand, war sein Atem flach vor Angst.
»Selbst wenn es keine Vergebung geben
kann, Abt«, sagte Remus, »kann doch gewiss Gnade gewährt werden.« Remus stand
vor uns am Schreibtisch, seine feuchten Augen glitzerten im Schein der Kerze.
»Gnade?« Staudach schüttelte den Kopf,
und die Bewegung wurde vom Schatten hinter ihm zehnfach vergrößert. »Ich kann
niemandem Gnade gewähren, der dieses Kloster zerstören will.«
»Tötet keinen freundlichen Mann in
unserem Namen.« Remus’ Stimme zitterte genau wie seine Hände, die er
flehentlich halb erhoben hatte.
»Ein freundlicher Mann, sagt Ihr?« Der
Abt beugte sich vor, und der Schatten seines Kopfes verdoppelte sich.
»Dominikus, ein freundlicher Mann schlägt seinen Bruder nicht. Ein freundlicher
Mann setzt seinen Bruder nicht in Brand.«
»Er hat all das verdient und mehr«,
erklang Nicolais Stimme aus dem Schatten. Sie war leise, aber fest.
Staudach richtete den Blick auf
Nicolai und musterte ihn im trüben Licht. Schneidend fragte er: »Welches
Verbrechen kann denn rechtfertigen, was Ihr ihm angetan habt?«
Nicolai sah den Abt ausdruckslos an
und antwortete nicht.
»Sprecht!«, befahl Staudach.
»Ich habe einen Eid gebrochen.«
»Ihr seid nur einem Schwur
verpflichtet, und der gilt mir!«, brüllte Staudach und schlug mit der
Handfläche auf den Tisch. Ich wich zurück. Der Abt sah auf Remus und dann auf
Nicolai. »Nun, wer von Euch will diese schändliche Tat rechtfertigen?«
»Ihr habt bereits beschlossen, dass
Ihr mich töten wollt«, antwortete Nicolai. »Ich sage nichts.«
Die kalten Augen wanderten zu dem
kleineren Mönch. »Dominikus also, sprecht.«
»Nein, Abt.«
»Und du«, sagte er schließlich zu mir.
»Warum bist du hier? Was hast du zu sagen?«
Obwohl ich so viel größer als der Abt
war, fühlte ich mich noch wie das kleine Kind, das vor Jahren zum ersten Mal
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