Der Kaufmann von Lippstadt
Dr. Buddeus einen schriftlichen Bericht an den Rat und die Bürgermeister. Darin gibt er an, dass die gefundene [n] menschliche [n] todte [n] Gebeine von einer Persohn, so noch nicht völliger männlicher Stärcke, sondern so etwa 14 a 15 Jahre gewesen 30 seien.
Es sind die schlimmsten Verwüstungen, die Lippstadt seit Langem erlebt hat. Es muss nicht nur die Höhe des Sachschadens ermittelt werden, sondern auch, wer die beiden Toten sind. Die Ehe-Frau des Stadts-Dieners Pape zeigt an, daß sie seit der Zeit des gestrigen Unglücks den bey ihrem Rindvieh gehabten Kuhhirten, einen Jungen von ohngefehr 15 Jahren, vermisset und weil dieser Junge an dem Walle mit dem Jungen des Stadtsdiener Schülpke, der gestern todt gefunden worden, in Gesellschaft das Vieh gehütet [habe] , so seye nicht anders zu glauben, als daß die sich heute auf dem Platze gefundenen einzelne menschliche Gebeine die Überbleibsel ihres mit verunglückten Kuhhirten seyn müßten.‹ 31
Frau Pape ist nicht die Einzige, die klagt. Zum Leidwesen aller waren die beiden Jungen verunglückt, doch sind die Lippstädter Gott dankbar, nicht mehr Tote betrauern zu müssen. So beklagen sie den gewaltigen Sachschaden, fegen vorerst die Trümmer zur Seite und versuchen, ihre Dächer notdürftig abzudichten.
Ferdinand Overkamp und Hinrich Jost Matthiesen sind die einzigen Gäste im ›Goldenen Hahn‹. Normalerweise hätte auch Overkamp zu Hause und in der Stadt genug zu tun, doch die Dringlichkeit seines Anliegens lässt ihn nun hier sein.
»Was kann ich für Sie tun, lieber Freund?«, beginnt Matthiesen das lang angekündigte Gespräch. »Sie können sich mir anvertrauen, ich halte mein Wort als Ehrenmann und schweige.«
»Danke, Herr Matthiesen, das weiß ich. Deswegen sehe ich auch keinen anderen Weg, als mit Ihnen zu sprechen. Meiner ältesten Tochter Elisabeth ist etwas Schändliches zugestoßen. Ich will es frei heraussagen, sie trägt ein Kind unter dem Herzen. Sie erwartet ein uneheliches Kind! Der Vater des Kindes war – ist«, berichtigt sich Overkamp schnell, »ein Taugenichts, er hat nichts, er kann nichts. Sie wissen schon. Noch weiß es niemand in Lippstadt, und ich wünsche, dass das auch so bleibt. Man sieht noch nichts, wissen Sie«, flüstert Ferdinand Overkamp. Er ist immer leiser geworden, obwohl niemand sonst im Schankraum ist.
»Verstehe, doch wie kann ich helfen?«, fragt Hinrich Jost Matthiesen, der nicht erkennen kann, welche Rolle er nun spielen soll.
»Ich habe meine Schwester Katharina in Lübeck benachrichtigt. Sie ist bereit, Lieschen vorübergehend bei sich aufzunehmen. Meine Bitte an Sie, werter Herr Matthiesen, ist, nehmen Sie Elisabeth mit nach Lübeck zu Ihrer Schwägerin Katharina. Dann habe ich die Gewissheit, dass Lieschen dort gut ankommt. Eine junge Dame kann man ja nicht allein reisen lassen.« Er atmet schwer ein und wieder aus. Nun ist es heraus, was ihn so lange belastet hat. Nächtelang hatte er gegrübelt, um eine Lösung für dieses delikate Problem zu finden. Dann war ihm sein Geschäftsfreund und Schwager Hinrich Jost Matthiesen eingefallen. Noch in derselben Nacht war er aufgestanden und hatte seiner Schwester Katharina Matthiesen einen langen Brief geschrieben, in dem er erklärte, was seiner Tochter geschehen sei, und dass er hoffe, dass Katharina einen guten Ort für sein Lieschen zum Entbinden finden werde. Dass nun am gestrigen Tag gleich eine doppelte Lösung des Problems ins Haus stand, konnte er da noch nicht wissen. Jetzt ist sicher, dass der Vater des ungeborenen Kindes schweigt wie ein Grab; Overkamp läuft ein Schauer über den Rücken, als er sich der doch allzu gut passenden Redewendung bewusst wird.
»Ja, das ist doch selbstverständlich. Ich bringe Fräulein Elisabeth sicher nach Lübeck. So eine reizende junge Dame. Ist sie denn ausreichend bei Kräften für die Strapazen einer so langen Reise?«, sorgt sich Matthiesen.
»Sie muss, sie muss. Auf ihr Wohlbefinden kann ich keine Rücksicht nehmen. Ich für meinen Teil habe getan, was ich konnte. Jetzt ist es an ihr. Stellen Sie sich die Schande vor, wenn herauskäme, dass die unverheiratete Tochter des größten und erfolgreichsten Kaufmanns der Stadt ein Kind erwartet. Und das von einem Taugenichts. Wenn ein anständiger Mann der Vater wäre, hätten wir sofort eine Hochzeit gefeiert. Dann fragt niemand mehr. Aber meine Tochter schweigt; sie gibt nicht preis, wer der Vater ist.« Ferdinand Overkamp ist sichtlich aufgebracht. »Aber
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