Der Keil des Himmels
Schultern.
Die Feste der Ninraé
Aurics Erzählung geriet ins Stocken. Seinem Blick aus dem Fenster entglitt der Fokus. Er hatte das Gefühl dafür verloren, wo er war.
Seit Auric gehört hatte, dass sein unerbittlicher Verfolger sich hier in Himmelsriff befand – in einer der unteren Kammern, so hatte ihm Darachel gesagt –, dass er sich als weit unerbittlicher und noch schwerer zu töten erwiesen hatte, als er vermutet hätte, ließ ihn der Gedanke daran nicht mehr los. So auch an diesem Morgen, als er, wie an jedem Tag, mit Darachel als Zuhörer den Faden seiner Lebensgeschichte aufgenommen hatte.
Das Bild des monströsen Körpers in seinem Zustand irreparabler Zerstörung, irgendwo in einer felsumschlossenen Halle dort tief unter ihm aufgebahrt, spukte durch seinen Geist und ließ dabei andere, fernere Bilder zur Oberfläche empor treiben. Er sah vor sich das einzelne gleichmäßig runde Auge, ein vom Augenring gefasstes strukturloses bleiches Glühen, in die Front des kompakten, tierhaft langgezogenen Homunkulus-Schädels getrieben, das ihn mit unmenschlicher Starre fixierte, und die beiden schweinshaft kleinen Zwillingsaugen jeweils zu einer Seite des Schädels, die mit einem seltsamen Sirren, wie dem eines Insekts, dem Suchen des Hauptsehorgans leicht verzögert folgten. Er hörte dazu eine Stimme, deren Klang ihm den kalten Schweiß in die Poren trieb und seine Nackenhaare sich aufrichten ließ, eine Stimme, deren Klang er, das letzte Mal als er sie gehört hatte, nicht länger hatte ertragen können.
„Auric, geht es dir gut?“
Darachels Stimme neben ihm schreckte ihn aus seinem selbstverlorenen Sinnen auf.
Er sah den Ninraé in seinem Lehnstuhl an seiner Seite nah bei den Fenstern sitzen, in jenem Raum, der ihm in den letzten Monaten ein Zuhause geworden war. Seine hohen, friesverzierten Mauern hatten die Grenzen seiner Welt definiert. Nur in seinen Erzählungen war er – über Distanzen von Zeit und Raum – weit darüber hinaus geschwebt, in den langen Stunden, in denen er vor seinem nichtmenschlichen Zuhörer die Geschichte seines Lebens ausgebreitet hatte.
„Alles in Ordnung“, antwortete er Darachel, „ich hatte mich nur ein wenig in Erinnerungen verloren“, und wurde sich wieder seiner Umgebung bewusst. Er stützte die Hände auf die Armlehnen, stemmte sich in seinem Stuhl hoch und blickte aus dem Fenster auf die feierlich kältestummen, reifbedeckten Ebenen hinab. Die Winter waren gnädiger zu den fremdartig verwunschenen Weiten des Irrlichtlandes. In seinem Rücken, seinen Blicken verborgen, auf der anderen, dem Plateauland zugewandten Seite von Himmelsriff, wusste er das höhere Land jenseits des Grabenbruches, in dessen Sturz die Feste hineingebaut war, fest im Griff von Monarch Winter, das Gebirge gepackt in Schnee und Eis, der Riaudan-Pass über die Drachenrücken blockiert – die Brücken zerstört. Die Würfel gefallen. Seinem Einfluss unwiderruflich entzogen.
Wenn er jetzt über den Fenstersims hinunterschaute, sah er Türme und Balkone in die Abwärtsflucht seines Blickes ragen, vorkragende, abwärts gestaffelte Auswüchse, Klippen, die ausgestalteter wirkten als von der bloßen Natur geformt, kantig abstrahiert nachgeschaffene Formationen sich türmender Steinriffe und Felsspitzen, eine Natur neben der ursprünglichen Natur, der Sturz der Flanke eines verwinkelten Kathedralenbaus in die Tiefe hinab, nur in seiner Komplexität, Verschachteltheit und ihren schieren Ausmaßen und Dimensionen ins Unglaubliche übersteigert, in unmenschlicher, fremdartiger – nichtmenschlicher – Konsequenz durchgestaltet. (Nincavaer, rief er sich das Gelernte aus einer der Sprachlektionen Darachels ins Gedächtnis, hieß diese Feste in der Sprache der Ninraé.) Dies alles war umgeben von etwas, das dem Blick wie Schleier von Unschärfe erschien, von schwankenden Wahrscheinlichkeiten, fallenden Schichten von Substanz und Wirklichkeit, als werde das Physische gebogen und aufgespalten in der Bewusstseinsschmiede einer großen Gemeinschaft von Wesen nichtmenschlichen Geistes: „den Ninre in ihren hohen und tiefen Burgen“, wie es in den Büchern hieß.
Die Tiefen dieser Feste. Nur zu schade, dass er den Homunkuluskörper in seiner Zerstörung nicht ins Auge fassen konnte, dachte er, während er sich auf den Sims der schlanken Fensterflucht stützte. Das würde vielleicht den Bann, den die bloße Vorstellung auf seinen Geist ausübte, brechen und ihn endlich zur Ruhe finden
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