Der Keil des Himmels
schieren Perfektion, vor Anbetung der Welt, die so etwas geschaffen hatte, das Herz zerriss) und setzte Fuß vor Fuß.
Genau, so wurde es gemacht: ein Schritt nach dem anderen.
Um sich von der verwirrenden Umgebung und was sie mit seinem Geist tat, abzulenken, rief er sich die Umstände dieses kleinen Ausflugs aus seinen Kammern ins Gedächtnis.
Die Enthravanen.
Wer immer, was immer das war. Der Begriff war ihm trotz Darachels Erklärungsversuchen so rätselhaft geblieben wie auch viele andere Konzepte der Gedankenwelt und Sprache der Ninraé – wie etwa Zwölfschaft oder Konstellarium. Oder überhaupt die ganzen Verwandtschaftsbeziehungen der Ninraé – wenn es dabei überhaupt um Verwandtschaft im menschlichen Sinne ging.
Jedenfalls hatten die Enthravane und das … „Koryphäum“ zugestimmt, dass er die Räume seines Krankenlagers zumindest zu diesem einen Ausflug verlassen durfte. Doch zunächst nicht, um in die Tiefen von Nincavaer hinabzusteigen und den zerstörten Homunkuluskörper in den Kammern der Physis aufzusuchen. Stattdessen war er auf dem Weg zu einer Audienz. Er sah dieser Begegnung mit großer Neugier aber auch einer Mischung aus diffuser Erregung und untergründigem Unbehagen entgegen.
Einen Silaé sollte er treffen.
„Silchaure“ hatte damals auf der riesigen Steinplatte in der Eingangshalle des Kinphauren-Bauwerks gestanden, die sich schließlich als eine Art von Siegel erwiesen hatte. Es war der einzige Begriff, den der angeblich so schriftbewanderte Senphore aus der Unzahl der die Platte bedeckenden Glyphen hatte entziffern können. „Silchaure“, was, wie Darachel ihm erklärt hatte, der Kinphauren-Begriff für die Silaé war. Die Freisetzung dieses dort seit unbekannten Zeiten gefangen gesetzten Wesens war ihm in seiner elementaren Wucht als erschreckendes und außerordentlich befremdendes Erlebnis tief in seine Erinnerungen eingebrannt. Verstörtheit eines immensen Geistes, Male von Knechtschaft und Unterjochung, von angetaner Gewalt blitzten durch den Schleier, der zwischen seinem Begreifen und etwas lag, was so titanisch und ungreifbar war wie die Sonne am Himmel oder der Begriff von Ewigkeit.
Und jetzt sollte er ein solches Wesen kennenlernen, ein normales seiner Art – nicht verbogen, nicht geschändet.
„Was werde ich dort zu sehen bekommen?“, hatte er Darachel und Siganche gefragt, die ihn begleiten sollten.
„Ich kann es nicht sagen, denn ich weiß nicht, wie deine Sinne arbeiten und was sie von der Welt wahrnehmen“, hatte Darachel geantwortet.
Offensichtlich nahmen die Ninraé die Welt anders wahr als er, so viel hatte er begriffen. Und vielleicht war hier in Himmelsriff die Dominanz ihres Geistes so stark, dass davon etwas auch für denjenigen sichtbar wurde, der nicht ihre Sinne besaß. Wenn es Orte gab, die von Geistern heimgesucht und dadurch verändert wurden, dann waren es in Himmelsriff vielleicht die Ninraé selber, die hier spukten.
„Fühlst du dich dem gewachsen, Auric?", fragte Siganche, die ihn besorgt von der Seite her ansah.
Ja, verdammt, tat er; er hatte Kyprophraigen und Duergas getrotzt.
„Führt mich weiter. Ich fühle mich gut.“
Das hatte er so leichthin gesagt.
Es kamen Treppen, die über Abgründe im Berg führten, nach deren Tiefe genauer zu schauen er sich nach einem knappen ersten Blick versagte. Er machte sich klar, dass es nicht so viele Möglichkeiten gab, wie man eine Treppe führen kann, alle in der Geometrie eines dreidimensionalen Raumes darstellbar. Dennoch, sie verlief in sinnverwirrenden Kehren, manchmal frei über der Tiefe. Der Schacht erschlug ihn, der steinumschlossene Raum dröhnte. Über, unter, neben sich sah er die kühle Leere durchschneidende, stufengezahnte Steinschrägen. Der Hall des Schachts flüsterte ihm Geheimnisse des Räumlichen zu, die er nicht hören, die er nicht wissen wollte.
„Dies ist der Schacht der Tiefe“, erklärte ihm Darachel. „Wir benutzen ihn nur selten und nehmen längere, verschlungenere Wege. Aber heute ist das Ziel wichtig und nicht der Weg. Er sollte für dich möglichst kurz sein.“
„Aha.“
Er verlor die Orientierung im Raum, er erklomm Treppen, bewältigte Brücken und Gänge wie im Delirium. Er hatte nicht gewusst, dass Kammern und Gänge, dass umbauter Raum ein klirrender, splitternder Traum sein konnten. Er wusste irgendwann nicht mehr, was waren Wandflächen, was waren Ecken, Kanten, was Türen und Durchgänge, wo befand er sich, wo ging er. Er wurde nur
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