Der Keil des Himmels
lassen.
Doch dann wurde er sich gewahr, dass er ja stand, dass er gehen konnte, dass er ja tatsächlich gar nicht mehr länger an sein Bett gefesselt war. So tief hatte sich die Vorstellung der durch seine schweren Verletzungen erzwungenen Immobilität in seinen Geist eingebrannt. Er konnte tatsächlich in die Kammern in den Tiefen von Nincavaer gehen, um sich den Homunkuluskörper anzuschauen, wenn er es wollte.
Das heißt: Wenn man ihn ließ.
Er war nicht mehr ans Bett gefesselt. Aber tatsächlich hatte er diese Räume bisher nicht verlassen.
„Darachel“ – er wandte sich vom Fenster um – „ich möchte die Kreatur sehen, die mich hierher verfolgt hat.“
Er sah den Ninraé zögern.
„Fühlst du dich denn kräftig genug dazu? Es ist ein langer Weg hinunter zu Nadragírs Kammern der Physis.“
„Es käme auf den Versuch an. Ein Versuch, den ich wagen möchte.“
Der erste Gang, den Auric betrat, war nur ein einfacher Korridor innerhalb der Gesamtstruktur von Himmelsriff. Er bot lediglich Zugang zu einer Flucht von Räumen, die, wie der seine, zur Ebene hinauswiesen. An einer Seite reihten sich die Türen und in einigem Abstand Nischen mit Fenstern zur Ebene hin, zur anderen hin ragte eine schiere Wand von Stein empor.
Die Räume, die ihm als Krankenlager zugewiesen waren – und die Auric, seit er aus seiner Bewusstlosigkeit erwacht war, noch nie verlassen hatte –, waren ihm, nach anfänglicher Befremdung durch die Eigenart ninraidischer Architektur, mit der Zeit immer vertrauter geworden.
Dass diese Vertrautheit nur eine trügerische Illusion war, wurde ihm beim ersten Schritt hinaus auf ihm bisher unbekanntes Territorium bewusst.
Nur ein einfacher Korridor, und doch schon in der ersten Sekunde erschlug er Auric geradezu mit der Macht seiner fremdartigen Bauweise und Proportionen. Er war ein Insekt, dass sich in einen Spalt quer durch den Fels eines Berges verirrt hatte. Er blickte entlang der Wände aufwärts und wartete geradezu darauf, dass durch die Hand eines Riesen die ganze räumliche Anordnung kippte und die Wände zu Boden und Decke würden. Er schluckte schwer und kämpfte um sein inneres Gleichgewicht. Er erwartete nach den Maßstäben der ihm bekannten Architektur in menschlichem Umfeld, dass eine solche Wand durch Säulen oder Pilaster gegliedert, sie selber und die Decke darüber durch sie gestützt würden. Nichts davon. Einsame Linien in der Wandstruktur, gegeneinander verschobene vorspringende Ebenen, rauere gegen glattere Strukturen, liefen in schlanken Kurven empor. Bänder von ninraidischen Friesen durchschnitten ihre Muster mit jenen typischen wie schichthaft angeschliffenen Arabesken, deren Formen sich mit dem Blickwinkel veränderten.
Auric war aus der Tür seines Quartiers der letzten Monate getreten und war dankbar für die stützenden Arme von Darachel und Siganche. Er starrte in Bestürzung auf den Korridor hinaus und Schwindel überfiel ihn, die Welt schien zu kippen, die Ankerpunkte seiner Orientierung sackten ihm weg. Die Tatsächlichkeit einer Perspektive verwirrte sich durch den Anschein es lägen Schichten und Falten vor den Flächen, so als unterläge die Realität in Himmelsriff einer Unschärfe. Nicht anders als in der gewohnten Umgebung und den bekannten Ausblicken seiner Kammer. Darin hatte er gelernt zu leben und das zunächst Fremdartige als gegeben hinzunehmen. Aber hier wie dort hätte er nicht einmal gewusst, worauf mit dem Finger deuten, wenn ihn jemand gefragt hätte, was denn so außergewöhnlich an den Räumen sei. Es war nicht handgreiflich, es war nicht sinnfällig, es war eine vage Anmutung. Vage doch machtvoll, Anmutung doch wirklich, denn sie war tatsächlich in der Wirkung, die sie entfaltete.
Sein Gewicht war schwer auf Darachels und Siganches stützende Schultern gefallen, für einen Moment. Ihre Blicke schwenkten herum, suchten den seinen. Er biss die Zähne zusammen.
Nun gut. Er war zerschlagen, er war zu Stücken zertrümmert, aber er war General Auric Torarea Morante. Er hörte den Ruf seiner Soldaten, mit dem sie ihn vor dem Angriff Eisenkrones warnten, wie das Anrauschen einer Brandung: Schwarzer! Schwarzer! Er war heute nicht mehr der gleiche wie damals. Den alten Auric hatte es zerrissen, der alte Auric war nicht mehr. Doch noch immer konnte ein simpler Korridor ihn nicht fällen. Er straffte sich, blickte Darachel, blickte Siganche in die Augen (versuchte den Anblick eines Gesichts zu ignorieren, der einem in seiner
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