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Der Keim des Verderbens

Der Keim des Verderbens

Titel: Der Keim des Verderbens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Cornwell
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auch immer?«
    »Vielleicht wollte er sich den Anblick ersparen, während er sie zerstückelte«, sagte ich.
    »Ach nein, jetzt macht er plötzlich auf sensibel«, sagte Wingo voll Haß auf den Täter.
    »Schreiben Sie bitte mit«, wies ich ihn an. »Die Halswirbelsäule ist in Höhe des fünften Halswirbels durchtrennt. Die verbliebenen Oberschenkelknochen enden auf der rechten Seite fünf Zentimeter und auf der linken sechs Zentimeter unterhalb des unteren Trochanters. Beide weisen sichtbare Sägespuren auf. Die verbliebenen Segmente der Oberarmknochen sind rechts wie links zweieinhalb Zentimeter lang, mit sichtbaren Sägespuren. Auf der oberen rechten Hüfte befindet sich eine zwei Zentimeter lange, verheilte alte Impfnarbe.«
    »Was ist damit?« Er meinte die zahlreichen erhabenen, mit Flüssigkeit gefüllten Bläschen, die über Gesäß, Schultern und Oberschenkel verteilt waren.
    »Ich weiß nicht«, sagte ich und griff nach einer Spritze. »Ich schätze, ein Herpes zoster.«
    »Puh!« Wingo zuckte vom Tisch zurück. »Hätten Sie mir das nicht früher sagen können?« Er hatte Angst.
    »Gürtelrose.« Ich begann, ein Reagenzglas zu beschriften.
    »Vielleicht. Ich muss allerdings gestehen, daß ich ein wenig irritiert bin.«
    »Was wollen Sie damit sagen?« Ihm gingen zusehends die Nerven durch.
    »Das Gürtelrosevirus«, erwiderte ich, »greift die sensorischen Nerven an. Die Bläschen bilden sich in Streifen entlang von Nervenbahnen. Unter einer Rippe zum Beispiel. Und sie sind unterschiedlich alt. Aber diese hier treten haufenförmig auf, und sie sehen alle gleich alt aus.«
    »Was könnte es denn sonst sein?« fragte er. »Windpocken?«
    »Das ist der gleiche Erreger. Kinder bekommen Windpocken. Erwachsene bekommen Gürtelrose.«
    »Was ist, wenn ich es kriege?« fragte Wingo.
    »Hatten Sie als Kind Windpocken?«
    »Keine Ahnung.«
    »Sind Sie gegen VZV geimpft?« fragte ich.
    »Nein.«
    »Nun, wenn Sie keine Antikörper gegen VZV haben, sollten Sie sich impfen lassen.« Ich blickte zu ihm auf. »Ist Ihr Immunsystem denn geschwächt?«
    Er antwortete nicht, ging zum Sektionswagen, streifte seine Latexhandschuhe ab und schleuderte sie in den roten Eimer für infektiöse Abfälle. Aufgebracht griff er sich ein neues Paar aus dickerem blauen Nitril. Ich unterbrach meine Tätigkeit und beobachtete ihn, bis er zum Tisch zurückkam.
    »Ich finde bloß, Sie hätten mich schon früher warnen können«, sagte er, und seine Stimme klang, als würde er gleich in Tränen ausbrechen. »Ich meine, wir haben schließlich überhaupt keine Möglichkeit, uns zu schützen, durch Impfungen zum Beispiel. Außer gegen Hepatitis B. Also bin ich darauf angewiesen, daß Sie mich darüber aufklären, was wir hier reinkriegen.«
    »Beruhigen Sie sich.«
    Ich faßte ihn mit Samthandschuhen an. Wingo war so sensibel, daß es schon fast ungesund war, und das stellte auch wirklich das einzige Problem dar, das ich mit ihm hatte.
    »Sie können sich bei dieser Frau unmöglich mit Windpocken oder Gürtelrose infizieren, es sei denn durch den Austausch von Körperflüssigkeiten«, sagte ich. »Solange Sie also Handschuhe tragen, ganz normal ihre Arbeit machen und sich nicht schneiden oder mit einer Nadel stechen, kann das Virus Ihnen nichts anhaben.«
    Einen Moment lang glänzten seine Augen, und er sah schnell weg.
    »Ich fange dann mal mit dem Fotografieren an«, sagte er.

Kapitel 4
    Marino und Benton Wesley erschienen am Nachmittag, als die Autopsie bereits voll im Gange war. Die äußere Leichenschau versprach keine weiteren Ergebnisse mehr, und Wingo machte gerade eine verspätete Mittagspause. Ich war also allein. Wesley heftete seinen Blick auf mich, als er zur Tür hereinkam, und an seinem Mantel sah ich, daß es immer noch regnete.
    »Nur damit Sie's wissen«, sagte Marino zur Begrüßung, »wir haben Hochwasseralarm.«
    Da es in der Leichenhalle keine Fenster gab, wusste ich nie, wie das Wetter war.
    »Wie ernst ist es denn?« fragte ich. Wesley war an den Rumpf herangetreten und sah ihn sich an.
    »So ernst, daß langsam mal jemand anfangen sollte, Sandsäcke zu stapeln, wenn das so weitergeht«, erwiderte Marino und stellte seinen Schirm in einer Ecke ab.
    Unser Gebäude lag mehrere Blocks vom James River entfernt.
    Vor Jahren war das untere Geschoß mal überschwemmt gewesen. Leichen, die der Wissenschaft zur Verfügung gestellt worden waren, trieben in überlaufenden Tanks an die Oberfläche, und rosafarben formalinverseuchtes

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