Der Keim des Verderbens
Ich wurde immer ungehaltener. »Ich muss Informationen herausgeben, um Fehlinformationen entgegenzutreten. Das kann nicht meine Aufgabe sein, Marino.«
»Keine Sorge, ich werde mich darum kümmern und noch um einiges mehr«, versprach er. »Ich nehme an, Sie wissen es noch nicht.«
»Was?«
»Es geht das Gerücht, Ring hätte etwas mit Patty Denver.«
»Ich dachte, die wäre verheiratet«, sagte ich, während ich mir in Erinnerung rief, wie sie gerade eben ausgesehen hatte.
»Ist sie auch«, sagte er.
Ich begann den Fall 1930-97 zu diktieren und versuchte mich darauf zu konzentrieren, was ich sagte und aus meinen Notizen ablas.
»Der Leichnam wurde in einem versiegelten Leichensack angeliefert«, sagte ich in den Kassettenrecorder und schob ein paar Zettel zurecht, die mit Blut von Wingos Handschuhen verschmiert waren. »Die Haut ist teigig. Die Brüste sind klein, atrophisch und faltig. Über dem Abdomen finden sich Hautfalten, die auf einen früheren Gewichtsverlust hindeuten ...«
»Dr. Scarpetta?« Wingo steckte seinen Kopf durch die Tür.
»Oh, Entschuldigung«, sagte er, als er merkte, daß ich gerade beschäftigt war. »Das ist wohl kein so guter Zeitpunkt.«
»Kommen Sie rein«, sagte ich mit einem müden Lächeln.
»Und machen Sie ruhig die Tür zu.«
Er schloss auch noch die Tür zwischen meinem und dem Büro von Rose. Nervös zog er einen Stuhl an meinen Schreibtisch. Es fiel ihm schwer, mir in die Augen zu sehen.
»Bevor Sie loslegen, lassen Sie mich etwas sagen«, begann ich freundlich, aber bestimmt. »Ich kenne Sie seit vielen Jahren, und ich weiß so manches über Sie. Ich habe keine Vorurteile.
Ich halte nichts von Schubladendenken. Für mich gibt es auf dieser Welt nur zwei Kategorien von Menschen. Die einen sind gut, die anderen sind es nicht. Aber ich mache mir Sorgen um Sie, weil Sie durch Ihre Neigung einem Risiko ausgesetzt sind.«
Er nickte. »Ich weiß«, sagte er, und in seinen Augen schimmerten Tränen.
»Wenn Ihr Immunsystem geschwächt ist«, fuhr ich fort, »müssen Sie es mir sagen. Denn dann sollten Sie lieber nicht in der Leichenhalle arbeiten, zumindest nicht bei bestimmten Fällen.«
»Ich bin HIV-positiv.« Seine Stimme zitterte, und er begann zu weinen.
Ich ließ ihm etwas Zeit. Er hielt sich die Arme vors Gesicht, als wolle er sich vor der ganzen Welt verstecken. Seine Schultern bebten, Tränen befleckten seinen grünen Kittel, und seine Nase lief. Ich stand auf und ging mit einer Schachtel Papiertücher zu ihm hinüber.
»Hier.« Ich stellte die Tücher neben ihn. »Ist ja gut.« Ich legte den Arm um ihn und ließ ihn sich ausweinen. »Wingo, ich möchte, daß Sie versuchen, sich zusammenzunehmen, damit wir darüber reden können, okay?«
Er nickte, putzte sich die Nase und trocknete sich die Augen.
Einen Moment lang schmiegte er den Kopf an mich, und ich hielt ihn in den Armen wie ein Kind. Nach einer Weile sah ich ihm ins Gesicht und packte ihn an den Schultern.
»Jetzt heißt es, das Herz in beide Hände zu nehmen, Wingo«, sagte ich. »Lassen Sie uns überlegen, wie wir dagegen angehen können.«
»Ich kann es meinen Eltern nicht sagen«, schluchzte er.
»Mein Vater haßt mich sowieso. Und wenn meine Mutter für mich eintritt, läßt er es nur an ihr aus. Verstehen Sie?«
Ich zog einen Stuhl heran. »Was ist mit Ihrem Freund?«
»Wir haben uns getrennt.«
»Aber er weiß Bescheid.«
»Ich weiß es selbst erst seit zwei Wochen.«
»Sie müssen es ihm sagen - und jedem anderen, mit dem Sie intim waren«, mahnte ich. »Das ist nur fair. Wenn jemand das für Sie getan hätte, würden Sie jetzt vielleicht nicht hier sitzen und weinen.«
Er schwieg und starrte auf seine Hände. Dann holte er tief Luft und sagte: »Ich werde sterben, nicht wahr.«
»Wir alle sterben irgendwann«, sagte ich sanft.
»Aber nicht so.«
»Möglich wär's schon«, entgegnete ich. »Ich muss bei jeder ärztlichen Untersuchung einen Aidstest machen. Sie wissen ja, wie leicht man sich hier anstecken kann. Mir könnte es genauso ergehen wie Ihnen.«
Er blickte zu mir auf, und seine Augen und Wangen brannten. »Wenn ich Aids kriege, bringe ich mich um.«
»Das werden Sie nicht tun«, sagte ich.
Er begann wieder zu weinen. »Dr. Scarpetta, ich steh' das nicht durch! Ich will nicht in so einer Sterbeklinik enden, in der Fan Free Clinic, in einem Raum mit lauter anderen Todeskandidaten, die ich nicht kenne!« Tränen flossen, und sein Gesichtsausdruck war verzweifelt und
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