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Der Keim des Verderbens

Der Keim des Verderbens

Titel: Der Keim des Verderbens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Cornwell
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sprach.
    Wesley ging zu einem Schreibtisch und zog einen Stuhl hervor. Er starrte gedankenverloren ins Leere, während ich ein Stromkabel von einer Rolle über mir herabzog und die Stryker-Säge einstöpselte. Marino, dem dieser Teil der Prozedur am wenigsten behagte, trat vom Tisch zurück. Niemand sprach ein Wort, während ich die Enden der Arme und Beine absägte. Knochenstaub schwebte durch die Luft, und die elektrische Säge schrillte lauter als ein Zahnbohrer. Ich legte jeden Schnitt in einen beschrifteten Karton und sprach aus, was ich dachte.
    »Ich glaube nicht, daß wir es wieder mit demselben Mörder zu tun haben.«
    »Ich weiß nicht, was ich glauben soll«, sagte Marino. »Aber es gibt zwei große Gemeinsamkeiten. Es ist ein Rumpf, und der Fundort ist eine Müllkippe in Zentral-Virginia.«
    »Er hat sich noch nie an einen bestimmten Opfertyp gehalten«, sagte Wesley. Die OP-Maske hing lose um seinen Hals.
    »Eine Schwarze, zwei weiße Frauen und ein schwarzer Mann.
    Die fünf in Dublin waren ähnlich zusammengewürfelt. Aber andererseits waren sie alle jung.«
    »Hältst du es also für wahrscheinlich, daß er sich jetzt eine alte Frau sucht?« fragte ich ihn.
    »Offen gesagt, nein. Aber im Verhalten solcher Leute gibt es keine Gesetzmäßigkeit, Kay. Wir haben hier jemandem, der zu jeder Zeit tut und läßt, was er will.«
    »Die Gliedmaßen der anderen Opfer wurden an den Gelenken amputiert. Hier war es anders«, erinnerte ich die beiden.
    »Und ich glaube, diese Frau war bekleidet oder in irgend etwas eingewickelt.«
    »Vielleicht ist es ihm diesmal schwerer gefallen«, sagte Wesley, nahm die Maske ganz ab und warf sie auf den Schreibtisch. »Vielleicht hat ihn sein Drang zu töten übermannt, und vielleicht war sie ein leichtes Opfer.« Er blickte auf den Rumpf. »Also schlägt er zu, aber es stört ihn, daß sie nicht so jung ist wie seine anderen Opfer.
    Deshalb ändert sich sein Modus operandi. Er läßt sie zumindest teilweise bedeckt oder bekleidet, weil es ihn nicht anturnt, eine alte Frau zu vergewaltigen und umzubringen. Und er hackt ihr zuerst den Kopf ab, damit er sie nicht ansehen muß.«
    »Sehen Sie irgendwelche Anzeichen für eine Vergewaltigung?« fragte Marino mich.
    »Damit ist nicht zu rechnen«, sagte ich. »Ich bin hier gleich fertig. Sie kommt wie die anderen in den Kühlraum. Vielleicht können wir sie ja irgendwann identifizieren. Ich habe Muskelfasern und Knochenmark entnommen, falls wir eines Tages eine Vermißte haben, zu der es einen genetischen Fingerabdruck gibt.«
    Es blieb den beiden sicher nicht verborgen, wie entmutigt ich war. Wesley nahm seinen Mantel, den er an eine Tür gehängt hatte und der eine kleine Pfütze auf dem Fußboden hinterließ.
    »Ich würde gern das Foto sehen, das man dir über AOL geschickt hat«, sagte er zu mir.
    »Das paßt übrigens auch nicht zu seiner sonstigen Vorgehensweise«, sagte ich, während ich den Y-förmigen Körperlängsschitt zu vernähen begann. »Das ist das erste Mal, daß ich etwas geschickt bekommen habe.«
    Marino wurde plötzlich hektisch, als hätte er es eilig. »Ich fahr' mal schnell nach Sussex raus«, sagte er auf dem Weg zur Tür. »Ich muss mich mit unserem wackeren Cowboy treffen, diesem Ring, damit er mir beibringen kann, wie man einen Mordfall löst.«
    Ich kannte jedoch den wahren Grund für seinen überhasteten Aufbruch. Obwohl er mir ständig predigte, ich solle Wesley heiraten, litt er insgeheim unter unserer Beziehung. Irgendwo im Hinterkopf würde er immer eifersüchtig sein.
    »Rose kann dir das Bild zeigen«, sagte ich zu Wesley, während ich den Leichnam mit einem Schlauch abspritzte und mit einem Schwamm wusch. »Sie weiß, wie sie an meine E-Mail rankommt.«
    Enttäuschung glomm in seinen Augen auf, noch bevor er sie verbergen konnte. Ich trug die Kartons mit den Knochenenden zu einer Arbeitsfläche am anderen Ende des Raums, wo sie in einer schwach konzentrierten Bleichmittellösung bis zur vollständigen Mazeration gekocht wurden. Er blieb, wo er war, sah mir zu und wartete, bis ich zurückkam. Ich wollte nicht, daß er ging, aber ich wusste auch nicht, was ich noch mit ihm anfangen sollte.
    »Können wir nicht miteinander reden, Kay?« sagte er schließlich. »Ich seh' dich ja kaum noch. Seit Monaten schon nicht mehr. Ich weiß, daß wir beide viel zu tun haben und daß dies kein guter Zeitpunkt ist. Aber ...«
    »Benton«, unterbrach ich ihn mit Nachdruck. »Nicht hier.«
    »Natürlich nicht. Das

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