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Der Keim des Verderbens

Der Keim des Verderbens

Titel: Der Keim des Verderbens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Cornwell
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noch ein bißchen durch, dann können Sie übermorgen fort, wenn nichts dazwischenkommt.«
    Als er ging, war mir zum Heulen zumute. Ich wußte nicht, wie ich auch nur eine weitere Stunde Quarantäne ertragen sollte.
    Niedergeschlagen saß ich unter meiner Bettdecke und schaute aus dem Fenster. Der Himmel war leuchtend blau, und unter dem bleichen Schatten eines morgendlichen Mondes hingen Wolkenfetzen. Die kahlen Bäume vor meinem Fenster wiegten sich in einem sanften Wind. Ich dachte an mein Haus in Richmond, an die Pflanzen, die eingetopft werden mußten, und die Arbeit, die sich auf meinem Schreibtisch stapelte. Ich sehnte mich danach, in der Kälte spazierenzugehen und Broccoli und Gerstensuppe nach meinem Hausrezept zu kochen. Ich sehnte mich nach Spaghetti mit Ricotta oder gefüllten Frittata, nach Musik und Wein.
    Den halben Tag lang suhlte ich mich einfach nur in Selbstmitleid und tat nichts, außer auf den Fernsehbildschirm zu starren und zu dösen. Dann kam die Schwester der nächsten Schicht mit dem Telefon herein und sagte, da sei ein Anruf für mich. Ich wartete, bis er durchgestellt worden war, und langte dann nach dem Hörer, als sei dies der aufregendste Moment in meinem ganzen Leben.
    »Ich bin's«, sagte Lucy.
    »Gott sei Dank.« Ich war hocherfreut, ihre Stimme zu hören.
    »Schönen Gruß von Oma. Es geht das Gerücht, daß du den Preis als schwierigste Patientin gewinnst.«
    »Stimmt. All die Arbeit in meinem Büro. Wenn ich die bloß hier hätte.«
    »Du brauchst Ruhe«, sagte sie. »Damit deine Abwehrkräfte intakt bleiben.«
    Besorgt dachte ich an Wingo.
    »Wieso sitzt du nicht am Computer?« kam sie zur Sache. Ich schwieg.
    »Tante Kay, mit uns wird er nicht reden. Er redet nur mit dir.«
    »Dann sollte sich einer von euch unter meinem Namen einloggen«, entgegnete ich.
    »Auf keinen Fall. Wenn er uns auf die Schliche kommt, geht er uns endgültig durch die Lappen. Es ist ja schon unheimlich, wie clever dieser Typ ist.«
    Ich sagte immer noch nichts, doch Lucy wartete nicht lange auf eine Antwort.
    »Wie stellst du dir das vor?« sagte sie emphatisch. »Ich soll so tun, als wäre ich eine Gerichtsmedizinerin mit einem Abschluß in Jura, die bereits mindestens eines der Opfer dieses Täters obduziert hat? Das ist ja wohl kaum machbar.«
    »Ich möchte mit ihm nicht in Verbindung stehen, Lucy«, sagte ich. »Menschen wie er geilen sich daran auf. Sie finden das toll. Sie wollen beachtet werden. Je mehr ich sein Spiel mitspiele, desto mehr bestärkt ihn das vielleicht. Hast du daran schon mal gedacht?«
    »Ja. Aber sieh es doch mal so: Ob er nun einen Menschen oder zwanzig zerstückelt hat, er wird wieder etwas Schlimmes tun. Menschen wie er hören nicht so einfach wieder auf. Und wir haben nicht die geringste Ahnung, wo zum Teufel er steckt.«
    »Ich denke gar nicht an mich«, fing ich an.
    »Das wäre aber vollkommen legitim.«
    »Ich hab' bloß Angst, daß ich etwas tue, was es noch schlimmer macht«, wiederholte ich.
    Dieses Risiko bestand natürlich immer, wenn man bei Ermittlungen kreativ oder aggressiv vorging. Der Täter war niemals völlig berechenbar. Vielleicht war es einfach nur eine Intuition, eine Schwingung, die ich tief in meinem Innern spürte. Aber ich hatte das Gefühl, daß dieser Mörder anders war. Irgend etwas, von dem wir noch nichts ahnten, trieb ihn an. Ich fürchtete, daß er unsere Pläne genau durchschaute und sich köstlich dabei amüsierte.
    »Jetzt erzähl mir von dir«, sagte ich. »Janet war hier.«
    »Darüber möchte ich jetzt lieber nicht reden.« Kalte Wut schlich sich in ihre Stimme. »Ich hab' Besseres zu tun.«
    »Ich stehe hinter dir, Lucy, was auch immer du vorhast.«
    »Das weiß ich doch. Und alle anderen können sich darauf verlassen, daß Carrie im Knast verfaulen wird, bis sie in die Hölle kommt, egal, was ich dafür tun muß.«
    Die Schwester stand wieder in meinem Zimmer, um mir das Telefon wegzunehmen.
    »Ich begreife es einfach nicht«, beschwerte ich mich, als ich auflegte. »Ich habe eine Telefonkarte, falls es das ist, was Ihnen Sorgen macht.«
    Sie lächelte. »Anweisung vom Colonel. Er will, daß Sie sich ausruhen, und er weiß, daß Sie das nicht tun werden, wenn Sie die Möglichkeit haben, den ganzen Tag zu telefonieren.«
    »Aber ich ruhe mich doch aus«, sagte ich, doch sie war schon wieder fort.
    Ich fragte mich, warum er mir erlaubte, den Laptop zu behalten, und hatte den Verdacht, daß Lucy oder sonst jemand ihn dazu bewegt hatte.

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