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Der Keim des Verderbens

Der Keim des Verderbens

Titel: Der Keim des Verderbens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Cornwell
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aus, verlorene Schafe zu finden und ihnen zu predigen, daß das Himmelreich nahe sei. Er trug den Jüngern auf, Kranke zu heilen, Aussätzige rein zu machen, Tote aufzuwecken und böse Geister auszutreiben. Während ich das las, rätselte ich, ob dieser Killer, der sich deadoc nannte, wirklich eine Botschaft hatte, an die er glaubte, ob zwölf sich auf die Jünger bezog oder ob er einfach nur Spielchen spielte.
    Ich stand auf, ging auf und ab und schaute dabei aus dem Fenster. Es begann bereits zu dunkeln. Es wurde jetzt früh Abend, und ich hatte es mir zur Gewohnheit gemacht, zu beobachten, wie die Leute zu ihren Autos gingen. Ihr Atem gefror in der Luft, und der Parkplatz war wegen der Haushaltssperre fast leer. Zwei Frauen hielten vor der geöffneten Tür des Hondas der einen ein Schwätzchen, und sie zuckten mit den Schultern und gestikulierten so angestrengt, als bemühten sie sich, die großen Probleme des Lebens zu lösen. Ich stand hinter den Jalousien und sah ihnen zu, bis sie wegfuhren.
    Ich versuchte, früh einzuschlafen, um allem zu entfliehen. Doch wieder wachte ich ständig auf und versuchte alle paar Stunden von neuem, in frisch geordnetem Bettzeug und einer anderen Position Schlaf zu finden. Bilder liefen ohne jeden logischen Zusammenhang vor meinem geistigen Auge ab wie alte, ungeschnittene Filme, die auf die Innenseite meiner Lider projiziert wurden. Ich sah zwei Frauen an einem Briefkasten, die sich unterhielten. Eine hatte einen Leberfleck auf der Wange, der sich in einen das ganze Gesicht bedeckenden, blühenden Ausschlag verwandelte. Sie schirmte ihre Augen mit der Hand ab. Dann krümmten sich Palmen in einem stürmischen Wind, und ein Hurrikan zog vom Meer heran. Abgerissene Palmwedel flogen umher. Ein entkleideter Rumpf, ein blutiger Tisch, auf dem abgehackte Hände und Füße aufgereiht lagen.
    Ich setzte mich schwitzend auf und wartete darauf, daß meine Muskeln aufhörten zu zucken. Es war, als hätte es in meinem Innern einen Kurzschluß gegeben, als stünde ich kurz vor einem Herzinfarkt oder einem Schlaganfall. Ich atmete tief durch und versuchte, an gar nichts zu denken. Ich saß ganz still. Als der Spuk vorbei war, klingelte ich nach der Schwester.
    Nach einem Blick auf meinen Gesichtsausdruck wagte sie keine Widerrede, als ich um das Telefon bat. Sie brachte es mir sofort, und kaum daß sie weg war, rief ich Marino an.
    »Sind Sie immer noch im Knast?« sagte er in den Hörer.
    »Ich glaube, das Opfer war sein Versuchskaninchen«, verkündete ich.
    »Wie bitte? Sagen Sie das noch mal.«
    »Deadoc. Die Frau, die er erschossen und zerstückelt hat, hat ihm vielleicht als Versuchskaninchen gedient. Jemand, den er kannte und an den er leicht herankam.«
    »Ehrlich gesagt, Doc, habe ich nicht die geringste Ahnung, wovon Sie reden.« Sein Tonfall verriet, daß er sich Sorgen um meinen Geisteszustand machte.
    »Das erklärt auch, warum er sie nicht ansehen konnte. Die ganze Begehungsweise macht auf einmal Sinn.«
    »Jetzt versteh' ich wirklich gar nichts mehr.«
    »Wenn Sie Menschen mittels eines Virus ermorden wollten«, erklärte ich, »müßten Sie sich doch erst einmal überlegen, wie das funktionieren soll. Wie soll die Krankheit zum Beispiel übertragen werden? Durch ein Nahrungsmittel, ein Getränk, Staub? Pocken werden durch die Luft übertragen. Sie verbreiten sich durch Tröpfchen oder durch Flüssigkeit aus den Wunden, können also von einem Menschen oder seiner Kleidung übertragen werden.«
    »Erst mal ist doch die Frage: Wo hat der Täter das Virus überhaupt her?« sagte er. »Das ist ja nicht gerade etwas, das man bei einem Versandhaus bestellt.«
    »Ich weiß es nicht. Meines Wissens gibt es nur zwei Orte auf der Welt, wo Pockenviren archiviert worden sind: die CDC und ein Labor in Moskau.«
    »Also handelt es sich hier vielleicht um ein Komplott der Russen«, sagte er sarkastisch.
    »Nehmen wir mal folgendes an«, sagte ich. »Der Killer hat einen Haß auf die Welt oder irgend jemanden. Vielleicht lebt er sogar in dem Wahn, er sei von oben berufen, eine der schlimmsten Krankheiten aller Zeiten zurückzubringen.
    Dann muß er sich eine Methode überlegen, Menschen willkürlich zu infizieren, und er muß sich darauf verlassen können, daß sie funktioniert.«
    »Also braucht er ein Versuchskaninchen«, sagte Marino.
    »Ja. Und angenommen, er hat eine Nachbarin, eine Verwandte, einen alten Menschen, der nicht gesund ist. Vielleicht sorgt er sogar für sie. Was gibt es für

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