Der Keim des Verderbens
die sich mehr Sorgen um mein Wohlergehen macht als um ihr eigenes.«
Fest entschlossen, nicht zu weinen, hielt ich den Mund.
»Wirklich praktisch. Und prima, daß du gerade jetzt krank wirst. So darf niemand dir zu nahe kommen. Marino bringt dich nicht einmal nach Haus. Und ich darf dich nicht berühren. Lucy kommt dich nicht besuchen, und Janet muß durch eine Glasscheibe mit dir sprechen.«
»Worauf willst du hinaus?« Ich sah ihn an.
»Deine Krankheit ist psychosomatisch.«
»Ach, das hast du wohl an der Uni gelernt. Vielleicht während deines Psychologiestudiums oder so.«
»Mach dich nicht über mich lustig.«
»Das würde ich doch nie tun.«
Ich wandte mein Gesicht zum Feuer, die Augen fest geschlossen. Ich spürte, wie verletzt er war.
»Kay. Stirb mir bloß nicht.«
Ich sagte nichts.
»Wehe, du wagst es.« Seine Stimme bebte. »Wehe!«
»So leicht kommst du mir nicht davon«, sagte ich und erhob mich. »Laß uns ins Bett gehen.«
Er schlief in dem Zimmer, in dem Lucy sonst wohnte, und ich lag den Großteil der Nacht wach, hustete und versuchte erfolglos, zur Ruhe zu kommen. Am nächsten Morgen war er um halb sieben schon auf, und als ich in die Küche kam, lief der Kaffee gerade durch. Sonnenstrahlen fielen durch die Bäume vor den Fenstern, und an den fest zusammengerollten Rhododendronblättern konnte ich sehen, daß es bitterkalt war.
»Ich mache Frühstück«, verkündete Wesley. »Was darf's sein?«
»Ich glaube nicht, daß ich etwas runterkriege.« Ich fühlte mich schwach, und wenn ich hustete, hatte ich das Gefühl, als würden meine Lungen bersten.
»Dir scheint es ja schlechter zu gehen.« Besorgnis flackerte in seinen Augen auf. »Du solltest einen Arzt aufsuchen.«
»Ich bin selbst Ärztin, und für einen Arztbesuch ist es noch zu früh.«
Ich nahm Aspirin, Schleimlöser und tausend Milligramm Vitamin C. Ich aß einen Bagel und begann mich gerade beinahe wie ein Mensch zu fühlen, als Rose anrief und alles wieder zunichte machte.
»Dr. Scarpetta? Die Mutter von Tangier ist heute früh gestorben.«
»O Gott, nein.« Ich saß am Küchentisch und fuhr mir mit den Fingern durchs Haar. »Was ist mit der Tochter?«
»Ihr Zustand ist ernst. Zumindest war er das noch vor ein paar Stunden.«
»Und der Leichnam?«
Wesley stand hinter mir und massierte mir die schmerzenden Schultern und den Nacken.
»Bislang hat ihn noch niemand abtransportiert. Keiner weiß, was zu tun ist. Das gerichtsmedizinische Institut von Baltimore hat schon versucht, Sie zu erreichen. Und die CDC.«
»Wer von den CDC?« fragte ich. »Ein Dr. Martin.«
»Den muß ich als erstes sprechen, Rose. Sie rufen inzwischen in Baltimore an und sagen denen, daß sie sich die Leiche unter keinen Umständen in ihr Leichenschauhaus schicken lassen dürfen, bis sie von mir gehört haben. Wie lautet Dr. Martins Nummer?«
Sie gab sie mir, und ich rief ihn sofort an. Er nahm schon beim ersten Klingeln ab und klang ganz aufgeregt.
»Wir haben einen PCR-Test mit den Proben gemacht, die Sie mitgebracht haben. Drei Primer haben wir gefunden, zwei davon entsprechen dem Pockenvirus, einer jedoch nicht.«
»Sind es denn nun Pocken oder nicht?«
»Die Genomanalyse hat ergeben, daß die Genomsequenz keinem einzigen Pockenvirus in keinem Referenzlabor der Welt entspricht. Dr. Scarpetta, ich glaube, das Virus, das Sie da entdeckt haben, ist eine Mutation.«
»Das heißt, daß die Pockenimpfung nicht wirkt«, sagte ich.
Mein Herz wurde schwer wie Stein.
»Das können wir nur anhand von Tierversuchen testen. Es dauert mindestens eine Woche, bis wir Bescheid wissen und damit anfangen können, über einen neuen Impfstoff nachzudenken. Der Einfachheit halber bezeichnen wir es als Pocken, aber in Wirklichkeit wissen wir nicht, was es ist. Ich möchte Sie auch daran erinnern, daß wir seit 1986 an einem Aidsimpfstoff arbeiten und immer noch keinen Schritt weitergekommen sind.«
»Tangier muß sofort unter Quarantäne gestellt werden. Wir müssen dieses Virus unbedingt isolieren«, rief ich in panischer Angst.
»Das ist uns schon klar, keine Sorge. Wir stellen gerade ein Team auf, und auch die Küstenwache wird mobilisiert.«
Ich legte auf und sagte völlig außer mir zu Wesley: »Ich muß auf diese Insel. Dort grassiert eine Krankheit, von der noch nie jemand etwas gehört hat. Sie hat bereits mindestens zwei Menschen getötet. Vielleicht sogar drei. Oder vier.«
Während ich weiterredete, folgte er mir über den Flur.
»Es ist eine
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