Der Kelch von Anavrin: Geheimnisvolle Gabe (German Edition)
das goldene Artefakt zweifellos auch erblickt hatten. In den Klauen des goldenen Drachen schimmerte ein Edelstein in eisigem Blau. Er fing den Mondschein ein und warf ein eigenartiges Licht auf Calandras traurige Miene. »Mutter, wie lange besitzt du dieses Gefäß denn schon? Wo hast du es aufbewahrt? Etwa hier in dem Weiher?«
Calandra nickte kaum merklich. »Ich wusste, dass er nicht eher ruhen würde, als bis der Drachenkelch wieder zusammengeführt wäre. Wie von Sinnen war er in seinem Bestreben, ihn zurückzubekommen. Von nichts anderem sprach er, nur darum kreiste sein Denken. Ich hatte ihm ein Geschenk gegeben, verstehst du? Und das konnte ihm niemand mehr wegnehmen. Er sollte ewig leben, wie ich. Und ich wusste, dass er erst ruhen würde, wenn er den Kelch wieder in seiner ursprünglichen Form in Händen hielt. Aber ich musste ihm Einhalt gebieten. Ich dachte, dass der Drachenkelch niemals wieder in seinem alten Glanz erstrahlen würde, wenn ich wenigstens ein Teilstück fände und vor den Augen der Welt versteckte.«
»Und wo hast du dieses Gefäß gefunden?«, fragte Serena und beugte sich hinab, um Calandra den kleinen Kelch vorsichtig aus der Hand zu nehmen.
»Ein Geistlicher kam einst durch den Wald … vor vielen, vielen Jahren. Er stammte aus dem Norden – ein Schotte. Er sagte, ich sähe so betrübt aus. Und vielleicht war ich das auch. Er erzählte mir von einer kleinen Kapelle jenseits des Marschlandes, in der die Pilger Frieden fanden und Heilung für ihre Schmerzen. Er riet mir, mich dorthin zu begeben, also befolgte ich seinen Rat. Als ich diesen Kelch unter den Steinen der Kapelle fand, wurde mir bewusst, dass sich mir damit womöglich ein Weg auftat, um das Unrecht, das ich meinem Reich angetan hatte, zumindest teilweise wieder gutzumachen. Ich gelobte, diesen Kelch so lange wie irgend möglich zu behalten, damit er nicht auch noch in Silas’ Hände fiel.« Calandra lachte leise. »Weißt du, der Geistliche hatte recht. Nachdem ich die Kapelle besucht hatte, habe ich wirklich etwas Frieden gefunden.«
»Den Stein des Friedens«, antwortete Serena. Sie drehte sich um und reichte Rand den Kelch.
»Ja, Serasaar«, bestätigte Calandra, und Ehrfurcht vor dem anavrinischen Namen schwang in ihrer Stimme mit. »Aber dann, keine vierzehn Tage ist es her, kam ein anderer Mann in diesen Wald, und da war es um meine innere Ruhe geschehen. Er besaß zwei weitere Gefäße des Drachenkelchs, die bereits zu einem größeren Kelch verschmolzen waren, und er verkörperte die Welt der Sterblichen, die mich wieder mit voller Wucht ergriff. Die Kraft von Serasaar wurde zu mächtig, da die anderen Steine in der Nähe waren, und da wusste ich, dass es nur noch eine Frage der Zeit war, bis auch Silas in dieser nördlichen Gegend auftauchen würde.«
»De Mortaine ist tatsächlich auf dem Weg hierher«, merkte le Nantres grimmig an. »Das Unheil holt uns ein.«
Schon mischten sich in das beständige Brausen des Wasserfalls Stimmen von Männern und ein Rascheln im Dickicht, das scharfen Klingen weichen musste.
»Der Kelch in Eurem Beutel«, sagte Rand zu Draec, und seine Stimme hatte einen drängenden Unterton. In seiner Hand begann der zuvor blassblaue Stein zu glühen und leuchtete immer heller. »Gebt ihn mir, Draec. Jetzt!«
Der schwarzhaarige Ritter warf ihm einen misstrauischen Blick zu.
»Den Kelch, verdammt!«
Le Nantres öffnete die lederne Packtasche und holte den goldenen Kelch hervor, der Calasaar und Vorimasaar enthielt. Auch diese Edelsteine glühten nun in einem überirdischen Licht.
»Großer Gott«, zischte der Ritter und hätte den Kelch beinahe fallen lassen. »Das verfluchte Ding pulsiert in meiner Hand. Was ist das? Er fühlt sich lebendig an.«
»Gebt ihn mir, Draec«, forderte Rand ihn erneut eindringlich auf.
Als Draec auf Rand zutrat, erstrahlten die Kelche, die beide in Händen hielten, in einem gleißenden Licht, das greller als das Sonnenlicht war. Serena barg ihr Gesicht an Calandras Schulter. Aber die Magie, die sich vor aller Augen abspielte, war so einzigartig, dass sie den Blick nicht ganz abwenden konnte.
Sie sah, wie Rands starker Arm unter der Kraft des Kelchs zu zittern begann. Auch le Nantres vermochte den Kelch in seiner Hand nicht ruhig zu halten. Keiner der beiden kampferprobten Krieger schien stark genug zu sein, um dem Zauber standzuhalten. In einem schnell rotierenden Wirbel strebten die beiden Kelche aufeinander zu. Sogleich lief eine unsichtbare Woge
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