Der Kinderdieb
wirklich zu sehen. In Gedanken schlug er sich mit Tanngnosts Worten herum: »Die Magie vergiftete die Menschen, ließ ihre Haut schwarz werden und ihnen Schuppen und Klauen wachsen. Sie wurden zu Dämonen.«
Genau wie in meinem Traum, dachte Nick.
Aber was bedeutet das dann? Dass ich mich in einen Fleischfresser verwandele?
Peter legte Nick eine Hand auf den Rücken. »Siehst du es, Nick?«
Der Junge schreckte auf. Er hatte nicht zugehört.
»Dort, dieses Becken. Das ist die Neckerbucht. Und gleich dort oben hinter der Kante liegt die Feste der Fleischfresser.«
Nick konnte sie nun sehen, eine Ansammlung schwarzer Flecken, die von einer Art Befestigungsanlage umgeben waren. Er konnte auch die verrottenden Gerippe der Schiffe in der Bucht ausmachen.
»Von dort bis zu dem schwarzen Qualm erstreckte sich früher ein üppiger Wald, der Millionen von Feenwesen eine Heimstatt bot.«
Die verbrannte Erde erstreckte sich über die ganze Breite der Insel und führte von den Küsten aus landeinwärts. An einem Ende dieser Brandspur war nichts als misshandeltes Land zu sehen, am anderen lagen die sterbenden Wälder Avalons. Es war kaum noch etwas davon übrig, und das wenige war grau und welk.
»Das Graue, das du da siehst, ist die Geißel«, sagte Tanngnost. »Sie ist die Folge davon, dass so viele Bäume und Bewohner Avalons umgebracht wurden. Es gibt nicht mehr genug Magie, um die Wildpflanzen und die zerbrechlicheren Geschöpfe am Leben zu erhalten, und so stirbt die Wildnis. Im Prinzip verhungert sie, weil es ihr an Magie mangelt. Wenn der Wald erst einmal dahin ist, wo sollen wir dann leben?«
Darauf läuft die ganze Sache letztlich hinaus
, dachte Nick.
Sie wollen, dass wir ihren Krieg für sie führen
. Der Anblick der Feuer machte es ihm allzu deutlich: Kinder, die kämpften und starben. Nick erschauerte. Er versuchte sich vorzustellen, wie es wäre, versuchte sich vorzustellen, wie man ihm ein Schwert in die Hand drückte, um damit auf Leben und Tod zu kämpfen.Das konnte er unmöglich tun. Es ging einfach nicht.
Wo bin ich da nur reingeraten? Und wie komme ich da wieder raus?
»He«, sagte Danny. »Warum holen wir uns nicht ein paar Knarren? Ein paar AK-Siebenundvierziger sollten ja wohl reichen.«
Mehrere der Anwesenden nickten.
»Was ist das?«, fragte Peter.
»Du weißt schon«, antwortete Danny. »Ein Automatikgewehr. Eine Maschinenpistole.«
»Oh, ich habe im Laufe der Jahrzehnte viele Pistolen hierher mitgenommen«, sagte Peter. »Aber sie funktionieren nicht mehr, sobald man sie durch den Nebel bringt. Irgendwas passiert mit dem Schießpulver oder so. Taschenlampen und Radios geben auch den Geist auf. Ich habe sogar mal einen Gameboy mitgenommen – den hätte ich wirklich gerne gehabt. Nichts Elektronisches läuft hier. Ich weiß nicht, warum, aber ich glaube, es liegt am Nebel. Der bringt diese Dinger völlig durcheinander.«
»Wie bitte? Gameboys funktionieren hier nicht?« Danny ließ die Schultern hängen. »Ach, Mensch, das kann doch nicht sein.«
Nick schaute an der Küste entlang. »Wo genau sind wir?«, fragte er kopfschüttelnd. »Ich meine, diese Insel hier. Sie passt unmöglich in den Hafen von New York. Und selbst wenn, würde den Leuten eine große, umhertreibende Wattewolke nicht auffallen?«
Peter machte ein Gesicht, als ob ihm dieser Gedanke noch nie in den Sinn gekommen sei, und schaute zu Tanngnost.
»Das habe ich mich auch schon oft gefragt«, sagte der Troll. »Viele haben sich diese Frage bereits gestellt. Bevor der Nebel zurückkam, konnten wir die umliegenden Länder sehen, das weiß ich. Die Einheimischen kamen mit Kanus zu uns, also konnten sie uns ebenfalls sehen. Vielleicht tut der Nebel mehr,als uns nur zu verstecken, vielleicht hat er uns in eine andere Zeit, an einen anderen Ort versetzt. Das würde erklären, warum die Zeit hier so viel langsamer vergeht. Aber das ist nur eine Vermutung. Tatsächlich verstehe ich die Wege Avallachs nicht einmal ansatzweise.«
Nick kam ein anderer Gedanke. »Warte mal. Die Dame kontrolliert doch den Nebel, oder?«
»Natürlich«, antwortete Tanngnost. »Sie ist eine Wassergöttin. Sie ist eins mit allen Wassern hier.«
»Warum vertreibt sie ihn dann nicht?«
Peter starrte ihn entsetzt an. »Ihn vertreiben? Dann würden mehr Menschen kommen. Warum sollte sie so etwas tun?«
»Damit die Fleischfresser verschwinden können.«
Und
, dachte Nick,
damit ich nach Hause kann
.
»Verschwinden?« Peter schnappte nach Luft und schaute
Weitere Kostenlose Bücher