Der Kinderdieb
es sich für ein Reh anfühlen musste, von Wölfen gejagt zu werden. Ein schriller Schrei entrang sich seiner Kehle – seine Augen waren weit aufgerissen, und sein Herz pochte, während er mit fliegenden Beinen durchs hohe Gras hechtete.
Nick war dem schmalen Baumstreifen schon ganz nah und roch das feuchte, brennende Holz dahinter. Ein Speer prallte von seinem Unterschenkel ab, und der Schaft verhedderte sich in seinen Beinen. Nick flog lang hingestreckt ins Gras.
Aus der Ferne hörte Peter Rufe. In dem dichten Nebel war schwer einzuschätzen, woher ein Geräusch kam. Er hielt inne und legte den Kopf von einer Seite auf die andere in dem Versuch, festzustellen, aus welcher Richtung der Lärm kam.
Er hatte die Spuren, bei denen es sich nur um Nicks handeln konnte, kurz vor Morgengrauen entdeckt und war ihnen gefolgt. Doch sie hatten sich bald mit den Spuren der Teufel vermengt, und seitdem rannte Peter in der Hoffnung, Nick vor den Teufeln zu erwischen. Er hatte auch einige andere Spuren gefunden, große, tiefe Abdrücke. Man musste einiges wiegen, um solche Spuren zu hinterlassen.
Ein vereinzelter Fleischfresser?
Das kam ihm unwahrscheinlich vor. Es gab nur eine andere Möglichkeit, und an die wollte er lieber gar nicht erst denken. Wer auch immer es war, er folgte dem Jungen.
Weitere Rufe.
Sie sind in der Nähe der brennenden Felder
, dachte Peter. Er hörte Schreie, die in der Stille des Morgens durchs Tal hallten. Er war entsetzt.
Wissen die denn nicht, wo sie sind?
»Avallach, sei uns gnädig«, flehte Peter und rannte, so schnell er konnte. War nicht schon genug schiefgegangen?
Nick setzte sich auf. Sie hatten ihn erwischt, und nun schwärmten sie aus und umzingelten ihn.
Ob ich auf diese Weise sterbe?
, fragte er sich. Sollte er allen Ernstes nicht von Ungeheuern oder irgendwelchen Drogendealern umgebracht werden, sondern von einem Haufen Kinder, die ihn noch gestern einen Bruder genannt hatten? Nicht einmal seine Todesangst war so schrecklich wie der Ausdruck auf ihren Gesichtern, die fieberhafte Schadenfreude, die sich hinter ihrem Blutdurst verbarg, die Sorte Mordlust, die nur Lynchmobs empfanden.
»ICH WAR ES NICHT!«,
schrie Nick. Doch niemand hörte zu. Aus allen Augen starrte ihm der Wunsch entgegen, jemanden zu ermorden – ihn zu ermorden.
Dirk sprang mit erhobenem Schwert auf ihn zu, den Blick auf Nicks Hals gerichtet. Sein Gesichtsausdruck unterschied sich in nichts von dem eines Jungen, der gleich ein Tor schießen würde. Ein Speer – ein dicker, schwerer Speer – traf Dirk mitten in die Brust, bohrte sich tief zwischen seine Rippen und riss ihn von den Beinen.
Ein lauter Schrei erfüllte die Luft. Fleischfresser brachen in breiter, unregelmäßiger Front zwischen den Bäumen hervor. Brüllend strömten Männer mit Rüstungen und schweren Stiefeln auf die Wiese und schwangen Schwerter und Speere.
Nick rappelte sich auf, spürte, wie dicke, starke Finger ihn am Arm packten, in die Luft rissen und zu Boden schmetterten. Alle Luft wurde ihm aus den Lungen gepresst. Das Gesicht eines Fleischfressers schob sich dicht an Nick heran. Die Lippen des Mannes zogen sich zur Parodie eines Grinsens auseinander und entblößten weißes Zahnfleisch und schwarze Zähne. Seine Augen, die kaum mehr als rote Schlitze waren, starrten Nick böse an. »Alles in Ordnung, Junge. Aye, wir sind hier, um dich zu retten.«
Nick versuchte, sich loszureißen, doch dann spürte er eine gezackte Klinge am Hals.
»Ganz ruhig«, gluckste der Mann. »Wenn du möchtest, dass deine Ohren links und rechts am Kopf bleiben, solltest du lieber keine Faxen machen.«
Nick sah, wie Blutrippe von einem Speer getroffen wurde, der sich ihm durch den Unterleib bohrte und am Rücken wieder austrat. Blutrippe packte den Speer mit beiden Händen, brüllte mit zusammengebissenen Zähnen und ging in die Knie.
Die Teufel, die über die ganze Wiese verteilt waren, blieben wie angewurzelt stehen. Ihre Gesichter, die eben noch den Blutdurst von Raubtieren gezeigt hatten, waren nun von ungläubigem Entsetzen gezeichnet.
»JETZT!«,
befahl ein großer Mann mit breitkrempigem Hut, und mehr schwer gerüstete Männer, mindestens dreißig bis vierzig, stürmten vom Osthang her auf die Wiese.
»LAUFT!«,
schrie Blutrippe.
»VERSCHWINDET!«
Die Teufel rannten los und verstreuten sich in alle Rich tungen. Die Männer folgten ihnen. Speere flogen von beiden Seiten, und Männer wie Teufel stürzten zu Boden. Nick sah, wie der große
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