Der Kinderdieb
Zunge schlackerte im Marschrhythmus hin und her.
Jetzt, wo sie auf freier Flur und weit weg von den Wäldern waren, ließen die Männer in ihrer Wachsamkeit nach. Mit leeren, seelenlosen Augen starrten sie auf den Weg vor ihren Füßen und zogen ihre Speere hinter sich her, während sie dielange graue Straße entlangstapften. Nick gab sich alle Mühe, sie nicht anzusehen, er wollte weder die dicken Adern sehen, die sich wie Würmer unter ihrer Haut entlangschlängelten, noch die Höcker, Schuppen und Hörner. Offenbar hatte der Zauber jeden einzelnen dieser Männer auf eine ganz eigene Art verdreht, und so sah Nick sich einer endlosen Vielfalt missgestalteter Leiber gegenüber, mit den Gesichtern von Männern, die bis auf den Grund ihrer Seele erschöpft waren.
Die Luft war warm und feucht, insbesondere verglichen mit der in den Wäldern. Schweiß rann Nick übers Gesicht und in die Wunden, brannte an den von den Stricken aufgescheuerten Stellen an Hals und Handgelenken. Seine Zunge fühlte sich geschwollen an. Er konnte sich nicht erinnern, jemals zuvor so durstig gewesen zu sein. Hier unten, im Flachland, war der Boden total ausgedörrt. Beim Gehen wirbelten sie dichte Staubwolken auf, und bald klebte ihnen der lehmige Sand am ganzen Körper. Nick wollte den Schmutz ausspucken, doch sein Mund war zu trocken.
Ihre Wache, ein kleiner, einarmiger Mann mit sauertöpfischer Miene und eiternden Warzen auf der Stirn, schlug Peter den Speerschaft vors Schienbein. Der Rotschopf stolperte, doch irgendwie schaffte er es, nicht zu stürzen.
»Hör auf, so zu schlurfen, Missgeburt. Beweg dich.« Da bemerkte der Mann, dass Nick ihn beobachtete, und schob sein Gesicht dicht an das des Jungen heran. Sein Atem roch nach faulem Fleisch. »Das ist ein Dämon, weißt du. Der da.« Er schlug Peter mit dem stumpfen Ende seines Speers. »Erkennst du das etwa nicht?«
Nick antwortete nicht.
»Kleiner Dummkopf«, fauchte der Wächter. »Wie kann man nur so blind sein? Siehst du nicht seine spitzen Ohren? Er ist Luzifers Sohn höchstpersönlich.«
Nick wandte sich ab.
»Schau dir mal das hier an.« Der Wächter drückte Nick seinen narbigen Armstumpf gegen die Wange. »Das war er.« Der Wächter stieß Peter das stumpfe Ende seines Speers in die Rippen. Der Getroffene ächzte, woraufhin der Wächter lachte und ihn einmal mehr schlug.
»Das reicht, Beasley«, erklang eine raue, erschöpfte Stimme. Sie gehörte dem hochgewachsenen Mann mit dem schmalen Schnurrbart, dem Ziegenbärtchen und dem breitkrempigen Hut, der in Nicks Augen einem Piratenhut ähnelte.
»Aye, Kapitän«, knurrte der Einarmige und versetzte Peter noch schnell einen letzten Stoß.
Kapitän Samuel Carver zupfte an seinem Ziegenbärtchen und ließ den Blick an der Gefangenenkolonne entlangschweifen. Sie hatten fünf Jungen lebend gefangen und noch dazu fast ein Dutzend Köpfe ergattert, um ihre Palisaden zu schmücken. Obwohl ihre Gefangenen wie Kinder aussahen, wusste der Kapitän es besser und hatte sich mehrfach vergewissert, dass die Stricke um ihre Hände festgezurrt waren und ihre Hälse sorgfältig an die Mittelstange gefesselt waren, bevor er sich auf den langen Marsch zurück zur Feste machte.
Der Kapitän musterte den Rotschopf, der an der Spitze ging. Ein trocknender Blutklumpen klebte an seiner Kopfhaut. Der Kapitän sah nicht ein, warum dieses Dämonenkind rotes Blut hatte, während sein eigenes, reines englisches Blut schwarz geworden war. Das war nicht gerecht. Aber was war schon gerecht?
Er ist es – die spitzen Ohren lassen keinen Zweifel zu.
Das musste dieser Peter sein, der Anführer des Heidenrudels. Wie oft hatte dieser Dämon ihn schon verspottet? Jetzt hatten sie ihn nicht nur gefangen, sie hatten ihn noch dazu lebendig in ihre Gewalt gebracht. Der Kapitän konnte es noch immer kaum glauben. Er hatte nicht erwartet, dass es so einfach werden würde.
Die Dämonen waren früh gekommen, direkt im Anschluss an ihren gestrigen Erfolg. Was
das
anging, hatte der Kapitän richtig gelegen. Also hatte er alle kampffähigen Männer mobilisiert in der Absicht, ihre Gegner zu überrumpeln. Er hatte vorgehabt, seine Hauptstreitmacht zwischen den Bäumen zu verstecken und Peter mit einem kleineren Trupp in einen Hinterhalt zu locken. Doch ein solcher Plan war überhaupt nicht vonnöten gewesen. Die Dämonenkinder waren direkt zu ihnen gekommen, als hätte der Herrgott persönlich sie ihnen zum Geschenk gemacht. Der Kapitän war beinahe enttäuscht
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