Der Kindersammler
zu eine L ü cke in die dichte Wolkendecke. Bis zum Kanal waren es nur noch wenige Meter. Ein schmaler Fu ß weg f ü hrte am Ufer entlang. Alfred wandte sich nach rechts, Richtung Britz. Morgens zwischen acht und zehn f ü hrten hier viele Hundebesitzer ihre Hunde spazieren, aber um diese Zeit war kaum jemand unterwegs.
Die stillen Spazierg ä nge am Kanal waren zurzeit in seinem Leben die einzigen Momente, die er wirklich genoss. Er ging langsam und hatte das wunderbare Gef ü hl, an gar nichts zu denken. Hin und wieder zog ein Lastkahn oder ein Schubverband an ihm vorbei, die meisten aus Polen oder Russland, wahrscheinlich auf dem Weg nach Hamburg oder nach Holland und Frankreich. Er hob jedes Mal gr üß end die Hand, und die Kapit ä ne fassten sich ebenfalls gr üß end an die M ü tze. Er ü berlegte seit Tagen, ob er nicht vielleicht versuchen sollte, auf einem Binnenschiff anzuheuern, aber das waren meist Familienbetriebe, und mehr als drei Personen arbeiteten auf so einem Schiff nicht. Der Kapit ä n, seine Frau und ein Maschinist, der meist Bruder oder Schwager war. Da hatte er als Au ß enstehender kaum eine Chance. Und mehr als Deckschrubben konnte er nicht. Wenn er wirklich Ernst machen und zur See fahren wollte, musste er nach Hamburg und dort versuchen, auf ir gendeinem Containerschiff mitzufahren, um endlich einmal ü ber den gro ß en Teich zu kommen.
Was ihn allerdings davon abhielt, war der Gedanke, ü ber Wochen auf einem Schiff gefangen zu sein, ohne Chance, sich zu separieren, an Land zu gehen oder abzuhauen. Er wollte nicht noch einmal auf engstem Raum mit anderen zusammengepfercht sein und deren Gestank und Macken aushalten m ü ssen. Das hatte er gehabt. Das wollte er nie wieder erleben.
In diesem Moment h ö rte er den gellenden Schrei eines Kindes, der sofort erstickt wurde. Wie elektrisiert blieb er stehen und drehte sich um. In einiger Entfernung sah er einen kleinen blonden Jungen, der gerade von zwei Jugendlichen, die mindestens f ü nf bis sechs Jahre ä lter waren, ü berfallen und mit einem Messer bedroht wurde.
Alfred rannte los. Es war der 12. November 1986, zehn Minuten vor halb zw ö lf.
2
Benjamin Wagner gammelte seit heute Morgen um Viertel vor acht in der Stadt herum. Sein blondes Haar lockte sich durch die N ä sse, einzelne Regentropfen liefen an seinem Pony herunter und kitzelten ihn an der Nase. Seine Turnschuhe waren v ö llig durchn ä sst. Merkw ü rdigerweise waren beide an den Innenseiten aufgerissen, sodass er zwischen Sohle und Oberleder ein Lineal schieben konnte. Das tat er auch h ä ufig und gerne in der Schule, wenn er sich langweilte, wodurch die Schuhe immer weiter aufrissen. Und es war sein einziges Paar Turnschuhe. Die Stiefel, die ihm sein
Vater gekauft hatte und die ihm seine Mutter jeden Morgen aufdr ä ngen wollte, konnte er nicht ausstehen, weil sie an den Fersen scheuerten.
Er fror mittlerweile entsetzlich. Durch seinen Anorak drang zwar kein Wasser, aber der Regen war ihm durch den Halsausschnitt hinten den R ü cken hinuntergelaufen, das T-Shirt klebte am K ö rper und hatte den gleichen Effekt wie ein eiskalter Umschlag. Benjamins Z ä hne klapperten. Er wusste, dass es ein Fehler gewesen war, die Kapuze nicht aufzusetzen, aber er hasste Kapuzen. Sie schr ä nkten das Blickfeld ein, und wenn er den Kopf drehte, rutschte ihm die Kapuze ü ber die Augen. Au ß erdem konnte er unter dem impr ä gnierten Kapuzenstoff auch nicht richtig h ö ren. Was in der Stadt gef ä hrlich war. Man musste immer auf der Hut sein.
In seiner Schultasche, die er seit heute Morgen mit sich herumschleppte, waren zwei Klassenarbeiten, die von seinen Eltern unterschrieben werden sollten. Eine Mathearbeit mit einer Sechs und ein Diktat mit einer F ü nf. Er w ü rde die f ü nfte Klasse nicht schaffen, und dann kam er ins Heim. Davon war er ü berzeugt, denn ein Junge aus seiner Klasse, der letztes Jahr sitzen geblieben war, war auch ins Heim gekommen. Und Benjamin wollte nicht ins Heim. Alles, aber nicht ins Heim.
Am vorigen Abend hatte er sich in seinem Zimmer verkrochen, hatte den Walkman auf den Ohren und stand am Fenster. » Bitte, Papa, komm. Bitte, bitte, Papa komm doch! » Ab und zu setzte er sich aufs Bett und bl ä tterte in der Bravo, die er sich von seinem Freund Andi geliehen hatte, und las immer und immer wieder einen Bericht ü bers K ü ssen. Er konnte kaum glauben, was da stand. Dass sich Menschen gegenseitig die Zunge in den Mund schoben, wenn sie
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