Der Kindersammler
sich mochten, war f ü r ihn unvorstellbar. Aber er hielt das ruhige Sitzen immer nur wenige Minuten aus. Dann schob er die Bravo wieder unter die Matratze, falls seine Mutter hereinkommen sollte, und ging ans Fenster, um dasselbe Sto ß gebet noch einmal zum Himmel zu schicken.
» Bitte, Papa, komm doch endlich! Bitte, lieber Gott, mach, dass Papa nach Hause kommt! «
Aber Papa kam nicht.
Seine Mutter Marianne sa ß unterdessen in ihrem Rollstuhl vor dem Fernseher und sah sich eine Vorabendserie im Fernsehen an. Bis vor drei Jahren war sie eine sportliche junge Frau gewesen, aber dann war sie eines Abends im Bad einfach umgefallen, weil sie ihre Beine nicht mehr sp ü rte. Die Taubheitsgef ü hle und das st ä ndige Kribbeln in Armen und Beinen hatte sie nicht ernst genommen und ihrem Mann verschwiegen. Bei Marianne Wagner wurde Multiple Sklerose diagnostiziert. Trotz Physiotherapie und starker Me dikamente kamen die Sch ü be immer h ä ufiger, bis der Rollstuhl nicht mehr zu vermeiden war, denn die Tage, an denen sie normal laufen konnte und wieder etwas Gef ü hl in den Beinen hatte, wurden immer seltener. Depressionen waren die Folge. Marianne litt darunter, ihrem Kind keine vollwertige Mutter und ihrem Mann keine vollwertige Ehefrau mehr sein zu k ö nnen. Sie weinte viel und fing an zu rauchen, obwohl das ihren Zustand noch verschlechterte.
Benjamin hatte st ä ndig Angst, seine Mutter zu entt ä uschen. Er f ü hlte sich sofort schuldig, wenn sie in Tr ä nen ausbrach, und konnte es ü berhaupt nicht aushalten, seine geliebte Mutter weinen zu sehen. Er wusste, wie sehr sie darunter litt, dass er so gro ß e Probleme in der Schule hatte, weil sie sich ihrerseits Vorw ü rfe machte, versagt zu haben. Auf keinen Fall durfte sie von den verhauenen Klassenarbeiten erfahren. Denn immer, wenn sie sich sehr auf regte, bekam sie einen neuen Schub und war hinterher noch viel kr ä nker als vorher.
An diesem Abend vor dem Fernseher rauchte sie wieder Kette. An der Art, wie sie die Zigaretten ausdr ü ckte, konnte Benjamin erkennen, wie es ihr ging. Ihre H ä nde zitterten, sie war fahrig und nerv ö s, ihre Augen waren ger ö tet. Offensichtlich hatte sie schon geweint und machte sich Sorgen, weil ihr Mann Peter wieder mal nicht nach Hause kam.
Benjamin starrte auf die Stra ß e und hypnotisierte die Stra ß enecke mit dem orangefarbenen Haus, das erst im letzten Sommer frisch angestrichen worden war. Um diese Ecke bog sein Vater gew ö hnlich, wenn er von der Arbeit kam, meist mit so schnellen Schritten, dass man ihn leicht verpasste, wenn man nicht unentwegt auf dieselbe Stelle starrte. Peter Wagner arbeitete bei Siemens am Band und hatte um siebzehn Uhr Feierabend. Er stieg dann am Siemensdamm in die U7 und konnte durchfahren bis zur Karl-Marx-Stra ß e oder zum U-Bahnhof Neuk ö lln. Beides war gleich weit, das Mietshaus im schlichten Baustil der sechziger Jahre, in dem sie seit f ü nf Jahren wohnten, lag direkt dazwischen. Es war zwar eine verdammt lange U-Bahn-Fahrt, zwanzig Stationen, aber wenn ihm die U-Bahn nicht direkt vor der Nase wegfuhr und alles glatt ging, war er oft schon vor sechs zu Hause. Allerdings ging er in letzter Zeit relativ h ä ufig noch mit seinem Kollegen Ewald, der in der Herrmannstra ß e wohnte, einen trinken. Ewald stieg dann mit ihm zusammen am Bahnhof Neuk ö lln aus, ersparte sich das Umsteigen und ging anschlie ß end die nur unwesentlich weitere Strecke zu Fu ß nach Hause.
Marianne war dieser Ewald ein Dorn im Auge. Sie war w ü tend ü ber jeden Abend, den ihr Mann in der Kneipe verbrachte und das knappe Geld die Kehle hinuntersp ü lte. Au ß erdem war sie auch traurig ü ber jeden Abend, den sie nicht mit ihrem Mann verbringen konnte, denn sie sah ihre Zeit inzwischen sehr begrenzt, sie glaubte nicht mehr daran, Benjamins Vollj ä hrigkeit zu erleben.
Dabei war Peter nie aggressiv, wenn er volltrunken nach Hause kam. Er tastete sich dann an den W ä nden entlang und l ä chelte d ü mmlich, als am ü siere er sich selbst ü ber seinen schwankenden Schritt, konzentrierte sich auf das Schlafzimmer, fiel ins Bett und sofort in Tiefschlaf. In diesem Zustand redete er nicht, beantwortete keine Fragen und lie ß sich nicht provozieren, sondern winkte nur st ä ndig ab. Nichts konnte ihn dann erreichen. Kein noch so gro ß es Problem dieser Welt.
Benjamin lag abends oft lange wach und belauschte die Gespr ä che seiner Eltern. Sie gaben sich gar keine M ü he, leise zu reden,
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