Der Kirschbluetenmord
hinauszuzögern. Eingewickelt in die blaue Hose und den Kimono von gleicher Farbe, entdeckte Sano eine einzelne, aus Stroh geflochtene Sandale.
»Ein armer Mann«, bemerkte Sano und rieb den rauhen, billigen Stoff der Kleidung zwischen den Fingern. Die Sandale, die an der Ferse bereits stark abgelaufen war, hätte jedem gemeinen Bürger gehören können. Er seufzte. »Die Nius hätten einer Heirat zwischen ihm und Yukiko schon aus diesem Grunde niemals zugestimmt.« Sano fragte sich, ob er das Risiko, den Zorn Magistrat Ogyūs auf sich zu ziehen, für nichts und wieder nichts eingegangen war. Hatte er die Schrecknisse in diesem Gefängnis für nichts und wieder nichts über sich ergehen lassen? »Vielleicht war es doch Selbstmord aus Liebe.«
»Möglicherweise wird Noriyoshi es uns selbst erzählen.« Doktor Itō legte das Buch zur Seite und ging zu der Leiche, die nun, von den Baumwolltüchern befreit, auf dem Tisch lag. Wenngleich Itōs Haltung aufrecht und respekteinflößend war, bewegte er sich zögernd. Ein Ausdruck des Widerwillens huschte über sein Gesicht. »Ihr könnt jetzt gehen«, sagte er zu den beiden Eta, die den Leichnam gebracht hatten. »Mura -san , ich möchte, daß du bleibst.«
Sano konnte den Blick auf die Leiche nicht länger hinauszögern. Er gab sich einen Ruck und drehte sich zum Tisch um.
Seine erste Empfindung war Erleichterung. Die Leichenstarre war bereits eingetreten, so daß Noriyoshis Gliedmaßen vollkommen steif waren: Seine Zehen wiesen zur Decke, und sein Mund stand weit offen, so daß er mehr einer grotesken Puppe ähnelte als einem Menschen, der gelebt und geatmet hatte. Er besaß keine Ähnlichkeit mit den verstümmelten Leichen, die Sano auf den öffentlichen Hinrichtungsplätzen gesehen hatte, oder mit den aufgedunsenen Kadavern, die man nach einem Hochwasser aus den Kanälen zog. Schmutz und Fasern von Seetang klebten auf seiner nackten Haut und dem Lendenschurz, doch nirgends waren Blut oder Spuren der Verwesung zu sehen. Neugierig geworden, trat Sano näher an den Tisch. Die tiefroten Wundmale an Noriyoshis Hand- und Fußgelenken erregten seine Aufmerksamkeit.
»Dort wurde die Haut von dem Seil aufgescheuert, mit dem er und Yukiko sich aneinander festgebunden hatten«, erklärte Doktor Itō.
Doch bis auf diese Wunden war Noriyoshis Körper völlig unversehrt. Er hatte einen Schmerbauch und ein aufgedunsenes Gesicht; Arme und Beine waren dünn, und sein Gebiß war nahezu vollständig. Vor seinem Tod hatte Noriyoshi sich für einen Mann in den Vierzigern offenbar guter Gesundheit erfreut. Falls es eine andere Todesursache gab als Ertrinken, war es nicht festzustellen.
»Ich habe genug gesehen«, sagte Sano und ging zum offenen Fenster. »Danke für Eure …«
Doch der Arzt schien ihn gar nicht zu hören. Stirnrunzelnd blickte er auf den Leichnam. Dann sagte er: »Drehe ihn auf die linke Seite, Mura -san .«
Gehorsam rollte der Eta den Toten auf die Seite. Itō beugte sich über den Leichnam und betrachtete eingehend den Kopf und den Hals.
Sano trat wieder an den Tisch. Plötzlich stiegen ihm die Ausdünstungen des Körpers in die Nase: ein süßlicher, Übelkeit erregender Geruch, wie auf dem Hinterhof eines Metzgerladens, vermischt mit dem Fischgestank des brackigen Flußwassers. Sano wich rasch einen Schritt zum Fenster zurück. Itō bedeutete dem Eta, die Leiche auf den Bauch zu drehen.
»Woher stammt das?« fragte Sano und zeigte auf die ausgedehnte Fläche rötlich verfärbter Haut, die sich über Noriyoshis Arme, den Rücken, das Gesäß und die Beine erstreckte.
»Vom Liegen«, erwiderte Itō sachlich. »Dort hat sich das Blut nach Eintritt des Todes gesammelt.« Er nahm ein Tuch aus seinem Ärzteumhang und bedeckte damit seine Hand. Dann betastete er Noriyoshis Kopf. Wenngleich Doktor Itō ein Arzt mit fortschrittlichen Ansichten war, hatte auch er die Abneigung Toten gegenüber offenbar noch nicht überwunden.
»Nimm dir ein Messer, Mura -san «, befahl Itō, »und ein Rasiermesser.« Dann, an Sano gewandt: »An der Schädelbasis befindet sich eine kleine, eingeschlagene Stelle. Wir sollten sie uns genauer anschauen.«
Sano betrachtete den Schädel des Toten, konnte aber nichts entdecken. Den Kopf zu berühren, brachte er nicht über sich. Deshalb wartete er, bis Mura dem Toten ein Büschel Haare abgeschnitten hatte und die Stelle, die Doktor Itō ihm gezeigt hatte, anschließend mit einem Rasiermesser abschabte, bis die Kopfhaut freilag. Jetzt sah
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