Der Kirschbluetenmord
härtester Bestrafung rechnen.
Doch unter den Gelehrten waren Geheimbünde und Untergrundbewegungen entstanden. Japanische rangakusha – Gelehrte, die der holländischen Sprache mächtig waren – schmuggelten über verbotene Kanäle ausländische Bücher ins Land, die sich mit Medizin, Astronomie, Mathematik, Physik, Botanik, Geographie und Militärwissenschaften beschäftigten.
Nun staunte Sano, daß er dem berühmtesten rangakusha gegenüberstand, einem Mann, dessen Mut er insgeheim bewundert und den er nie vergessen hatte. Doktor Itō Genboku, einstiger Leibarzt der kaiserlichen Familie, verbannt nach Enoshima, weil er holländische Heilmethoden praktiziert und wissenschaftliche Experimente gemacht hatte. Was tat dieser Mann hier, an diesem Ort?
»Ja, ich bin Itō Genboku. Aber ich bin nie nach Enoshima gereist«, sagte der alte Mann, als hätte er Sanos Gedanken gelesen. Er hatte eine trockene, jedoch angenehme Stimme, die von Belustigung und Ironie gefärbt war, als er nun hinzufügte: »Obwohl gewisse Leute meine Stellung als Aufseher der Leichenhalle von Edo als schlimmere Strafe betrachten würden als die Verbannung. Zweifellos hatten die Tokugawas genau dies im Sinn, als sie meinen Urteilsspruch dahingehend geändert haben. Wie dem auch sei, es hat seine Vorteile, hier zu arbeiten.« Er hielt das Buch in die Höhe. »Hier kann ich ungestört meinen Studien nachgehen. Es kümmert niemanden, solange die Arbeit in der Leichenhalle ordnungsgemäß vonstatten geht.« Dann, unvermittelt, fragte er: »Wer seid Ihr, und was wollt Ihr?«
Als Sano sich vorstellte und den Grund für sein Kommen nannte, wurde ihm klar, daß er Doktor Itō nicht mit dem angemessenen Respekt begrüßt hatte. Aber dieser Mann hatte irgend etwas an sich, das Förmlichkeiten überflüssig erscheinen ließ. Vielleicht war es seine ungewöhnlich direkte Art; vielleicht lag es aber auch daran, daß sein Status als Arzt ihn außerhalb des starren Systems gesellschaftlicher Klassen stellte, welches die Beziehungen der Menschen zueinander bestimmte.
»Die Eta konnten meine Fragen nicht beantworten, deshalb hat dieser Mann mich zu Euch gebracht«, endete Sano. »Habt Ihr irgendeinen Hinweis darauf entdeckt, daß es sich nicht um einen shinjū gehandelt hat?«
»Ich habe die beiden Toten noch nicht untersucht. Bedauerlicherweise war ich zu sehr mit den Opfern des Häuserbrands von gestern abend beschäftigt.« Doktor Itō bedachte Sano mit einem herausfordernden Blick. »Vielleicht solltet Ihr Euch auf Eure eigene Beobachtungsgabe verlassen und die Leichen selbst in Augenschein nehmen, um etwas über die Umstände des Todes der beiden zu erfahren, statt sich auf meine Erkenntnisse zu stützen. Allerdings wurde der Leichnam Niu Yukikos bereits ihrer Familie übergeben.«
Also hat Magistrat Ogyū mir doch nicht völlig vertraut, ging es Sano durch den Kopf. Ogyū mußte den Befehl, Yukikos Leichnam ihrer Familie zu übergeben, persönlich erteilt haben, um möglichen Fehlern und Nachlässigkeiten einen Riegel vorzuschieben.
»Aber Noriyoshis Leichnam ist noch hier«, fuhr Doktor Itō fort. »Möchtet Ihr ihn mit mir gemeinsam untersuchen?«
Sano fühlte sich wie in einer Falle. Er war nach Shintō-Tradition erzogen worden, und diese lehrte, daß jeder Kontakt mit einem Toten eine spirituelle Beschmutzung bedeute. Doch es wäre schändlich gewesen, einem Mann wie Itō diese Ängste einzugestehen. Sanos kleine, eigenständige Suche nach Wahrheit und Wissen erschien ihm unbedeutend im Vergleich zu den Opfern, die Itō gebracht hatte.
»Ja, Itō -san« , antwortete er.
Doktor Itō wandte sich an den Eta. »Mura -san «, sagte er und gebrauchte die respektvolle Form der Anrede, wie Doktor Itō sie bei jedem Menschen benutzen würde, »hole bitte Noriyoshis Leichnam.«
Mura verließ die Leichenhalle und kam in Begleitung der beiden jungen Eta zurück, denen Sano bereits begegnet war. Mura hielt ein Kleiderbündel in den Armen und reichte es Doktor Itō. Die beiden jungen Männer schleppten einen großen, länglichen Gegenstand ins Zimmer, der in weiße Baumwolltücher gewickelt war. Sie hoben ihn auf einen der beiden Tische und machten sich daran, die Tücher abzuwickeln.
»Noriyoshis Habseligkeiten«, sagte Doktor Itō und hielt Sano das Kleiderbündel hin.
Sano breitete die Sachen auf dem freien Tisch aus, um den ersten Blick auf die Leiche, die allmählich unter den Baumwolltüchern zum Vorschein kam, so lange wie möglich
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