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Der Kirschbluetenmord

Der Kirschbluetenmord

Titel: Der Kirschbluetenmord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Joh Rowland
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auch Sano die dunkelrot verfärbte Vertiefung in der Schädeldecke. Fragend blickte er Itō an.
    »Woher stammt diese Wunde? Von einem Schlag, der ihn getötet hat, bevor er in den Fluß geworfen wurde?«
    »Vielleicht. Oder von einem Felsen oder einem Pfosten, der ihn getroffen hat – nachdem er in den Fluß gesprungen ist.« Doktor Itō betonte die letzten Worte. »Oder er ist während der ersten Stunde nach Eintritt des Todes gegen einen Felsen oder Pfosten geprallt, als er von der Strömung fortgetrieben wurde. Ich kann es unmöglich sagen. Aber es gibt eine Möglichkeit, festzustellen, ob er ertrunken ist.«
    Sanos Herz klopfte schneller. Sein Instinkt sagte ihm, daß ein Mörder Noriyoshi diese Wunde zugefügt hatte. Doch er mußte es mit Bestimmtheit wissen. »Und wie geht das?« fragte er neugierig.
    »Falls der Mann ertrunken ist, sind seine Lungen mit Wasser aus dem Fluß gefüllt«, erwiderte Itō. »Doch um das festzustellen, müssen wir ihn aufschneiden.«
    Sano starrte den Arzt entsetzt an. Das Sezieren eines menschlichen Körpers – wie auch jede andere Handlung, die auch nur im Entferntesten mit ausländischen Wissenschaften zu hatte – war noch genauso streng verboten wie damals, als Itō verurteilt wurde. Vermutlich interessierte es die Behörden nicht mehr, ob Doktor Itō gegen das Gesetz verstieß – aber was war mit ihm, dem frischgebackenen yoriki? Wenn die falschen Leute erfuhren, daß er einer Leichenöffnung zugestimmt hatte, würde es ihn nicht nur sein Amt kosten. Man würde ihn verbannen, und er würde sein Heim und die Familie nie wieder sehen. Sano wollte widersprechen, doch als sein Blick sich mit dem Itōs traf, gefroren ihm die Worte auf den Lippen. Ich habe alles aufs Spiel gesetzt, um nach verborgenen Wahrheiten zu suchen, schienen Itōs kluge Augen zu sagen. Wie weit bist du zu gehen bereit?
    Sanos Inneres wand sich angesichts dieser unausgesprochenen Herausforderung. Er versuchte, das Bild seines Vaters heraufzubeschwören und das Bild Magistrat Ogyūs. Er rief sich ins Gedächtnis, daß er diesen beiden Männern verpflichtet war. Statt dessen aber sah er vor seinem geistigen Auge, wie der dōshin und dessen Schläger einen hilflosen Bettler verprügelten, und plötzlich verspürte Sano die gleiche Hochstimmung wie an diesem Morgen, als er die Ungerechtigkeit des dōshin verhindert und eine Untersuchung eingeleitet hatte, die zurück auf den Weg zur Wahrheit führte.
    »Also gut«, sagte er.
    Kaum hatte Sano die Worte ausgesprochen, erkannte er, daß er sich in dem Moment dieser Sache verschrieben hatte, als er seine Zustimmung erteilte, die Leiche in Augenschein zu nehmen. Schon in diesem Moment hatte er den ersten Schritt getan – und keine Wahl mehr gehabt, was den zweiten Schritt betraf.
    Itō nickte Mura zu, worauf der Eta zu einem der Schränke ging und ein hölzernes Tablett mit Instrumenten herausnahm – stählerne Sägen, lange, dünne Klingen und eine Sammlung verschiedener Messer und Geräte, wie Sano sie nie zuvor gesehen hatte. Es mußte sich um Instrumente holländischer Herkunft handeln. Mura stellte das Tablett auf den freien Tisch neben dem Leichnam; dann ging er noch einmal zum Schrank und nahm ein weißes Tuch heraus, das er sich über die untere Gesichtshälfte band.
    Muras geübte Bewegungen verrieten Sano, daß dies nicht die erste Leichenöffnung war, die hier vorgenommen wurde. Das Rohr aus Bambus, das von einem Loch im Tisch zu einem Abfluß im Fußboden führte, erhärtete diesen Verdacht. Das Zimmer war für die Experimente Doktor Itōs hergerichtet worden.
    Mura drehte Noriyoshis Leichnam wieder auf den Rücken. Dann nahm er ein dünnes Messer und hielt es über die Brust des Toten. Offenbar nahm Mura, nicht Itō, die eigentlichen Schnitte vor. Trotz seiner unkonventionellen Ansichten hielt Itō sich an die Tradition, den Umgang mit Leichen den Eta zu überlassen.
    Mit einer Mischung aus Faszination und Entsetzen beobachtete Sano, wie die Klinge glatt durch Noriyoshis Haut und Fleisch drang und sich von der Mitte des Schlüsselbeins aus nach unten zum Nabel bewegte.
    »Kein Blut?« fragte Sano, erleichtert, daß ihm dieser Anblick erspart blieb. Dann aber sah er das rohe, rosige Fleisch an der Schnittstelle und wurde blaß. Sein Herz schlug wild, und seine Hände wurden kalt und feucht.
    »Die Toten bluten nicht«, erwiderte Doktor Itō.
    Derweil machte Mura mehrere Schnitte, die quer zum ersten verliefen. Dann schob er ein Instrument mit flacher

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