Der Kirschbluetenmord
sein Geist mit der unerschütterlichen Ruhe des Samurai bereits den tödlichen Schlag erwarteten, berührte seine rechte Hand einen Stab aus kaltem, hartem Metall. Zwei Zacken ragten über den Handgriff hinweg. Es war nicht sein Schwert, sondern die jitte, die Verteidigungswaffe der Polizei.
Kaum hatte Sano den Gegenstand erkannt, ging eine schlagartige Veränderung in seinem Innern vor. Seine Furcht verschwand, und alle körperlichen und seelischen Hemmnisse verblaßten zur Bedeutungslosigkeit. Die jitte: das Symbol für Recht und Ordnung im Kampf gegen Gesetzlosigkeit und Chaos; für das Richtige statt des Falschen; für Wahrheit statt Täuschung; für das Gute in Sanos Innerem statt des Bösen im Innern Fürst Nius. Diese Gedanken schossen Sano in Blitzesschnelle durch den Kopf. Ein sonnenheller Lichtstrahl wortlosen Begreifens leuchtete in ihm auf. Kraft strömte von der Waffe in seinen Körper. Indem sein Geist sich mit allem vereinte, das wahr und gut, rein und sittlich war, fand er Stärke und Mut. Sein zersprengtes Innerstes verschmolz wieder zu einem Ganzen und begann, reine Energie auszustrahlen. Jetzt, binnen eines winzigen Moments, blickte Sano seinem Schicksal ins Auge.
Mit einem ohrenbetäubenden Schrei ließ Fürst Niu sein Schwert in einem diagonalen Bogen niedersausen. Im gleichen Augenblick riß Sano die jitte schräg vor seinen Körper. Fürst Nius Schwertklinge traf die Abwehrwaffe mit solcher Wucht, daß beim Aufprall greller Schmerz durch Sanos Arme jagte. Nur Zentimeter von Sanos Kehle entfernt, verkantete die Schwertklinge sich in einer der Zacken der jitte. Sano riß die Waffe zur Seite und nutzte den Schwung und das Überraschungsmoment, um den Gegner aus dem Gleichgewicht zu bringen. Fürst Niu geriet ins Wanken. Bevor er sein Schwert zwischen den Zacken der jitte hervorzerren konnte, riß Sano die Waffe zur Seite, befreite sie vom Schwert und schmetterte sie Fürst Niu seitlich an den Kopf. Der Fürst fiel schwer zu Boden. Sano erkannte, daß dieser großartige Schwertkämpfer keinerlei Übung im jittejutsu besaß.
Seine Zuversicht wuchs, als ihm deutlich wurde, daß seine eigenen beschränkten Erfahrungen mit dieser Waffe ihm einen kleinen Vorteil verschafften. Sein Geschick mit der jitte – dazu seine wiedergewonnene Kraft – konnte ihn vielleicht doch noch als Sieger aus diesem Kampf hervorgehen lassen. Sano sprang auf.
In diesem Moment erkannte er, daß er den Winkel des Schlages falsch eingeschätzt hatte, wie auch die Wucht, die für einen wirkungsvollen Hieb erforderlich war, und die tödliche Entschlossenheit seines Gegners. Mit erschreckender Gewandtheit richtete Fürst Niu sich auf. Sein gebrochener Kiefer verwandelte sein Gesicht in eine boshafte, verzerrte Fratze, auf der ein schiefes Grinsen lag. Er starrte Sano mit unvermindertem Haß und Zorn an. Dann sprang er vor, und die Klinge seines Schwertes sirrte blitzend durch die Luft.
Sanos linker Arm war praktisch nutzlos, und der rechte begann unter der Wucht der wiederholten Schläge des Gegners zu ermüden. Fürst Niu ließ dem Gegner erst gar keine Zeit, das eigene Schwert an sich zu nehmen. Doch Sanos Wahrnehmungsfähigkeit wurde immer schärfer, bis er einen Zustand außergewöhnlicher geistiger Klarheit erreichte, wie er ihn nie zuvor erlebt hatte.
Er handelte ohne einen bewußten Gedanken, als er Fürst Nius Schläge parierte, wobei er jede noch so kleine Bewegung vorausahnte. Wenngleich seine größte Aufmerksamkeit auf den Gegner gerichtet blieb, war ihm gleichzeitig alles in seinem Innern und um ihn herum bewußt. Noch immer tobte die Schlacht. Ohne daß er hinzuschauen brauchte, sah Sano, wie einer der Leibwächter zwei Angreifern in rascher Folge die Kehlen aufschlitzte.
Doch seinen Schmerz spürte er nach wie vor: Er konnte O-hisa, Raikō, Tsunehiko, Wisterie und seinen Vater nicht vergessen – ebensowenig wie seine Abscheu vor dem Mann, der ihm nun gegenüberstand, der seine eigene Mutter zur Mörderin gemacht und sie in den Selbstmord getrieben hatte. Doch die Erinnerungen und Gefühle seelischer und körperlicher Natur vermischten sich mit dem Einssein und dem Einklang seines inneren Selbst, und dies gab ihm Zuversicht.
Sano bewegte sich mit zunehmender Aggressivität, wobei er nun einen weiteren Vorteil gegenüber Fürst Niu nutzte: seine Beweglichkeit. Immer wieder glitt Sano gefährlich nahe an den Gegner heran – um dann blitzschnell zurückzuweichen. Auf diese Weise zwang er den Gegner, ihm zu
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