Der Kirschbluetenmord
Tsunayoshi saß im riesigen Empfangszimmer auf einem Podest. Er hatte sich das Frauenkostüm ausgezogen und trug nun formelle schwarze Gewänder. Sein Gesicht sah müde, besorgt und älter aus, als bei einem Mann von dreiundvierzig Jahren zu erwarten gewesen wäre. Kammerherr Yanagisawa und die fünf Ältesten knieten am Fuße des Podests; der Shōgun schien ihren Schutz ebenso dringend zu brauchen wie den seiner Leibwächter bei dem wilden Kampf in der vergangenen Nacht.
»Ihr habt mir das Leben gerettet, Sano Ichirō«, sagte er mit einer Stimme, die höher und leiser klang, als Sano es beim höchsten Militärbefehlshaber des Landes erwartet hätte. »Dafür will ich Euch meinen Dank aussprechen. Aber zuerst einmal möchte ich Euch bitten, mir zu berichten, wie Ihr von der Verschwörung des jungen Fürsten Niu erfahren habt.«
Sano erzählte die ganze Geschichte. Er zeigte die Sandale und das Seil, die er als Glücksbringer behalten hatte, nachdem sie ihren praktischen Wert längst schon verloren hatten. Dann las er laut den Abschiedsbrief der Fürstin Niu sowie die Namensliste der Verschwörer vor.
Als Sano endete, redeten alle Anwesenden gleichzeitig drauflos.
»Ein Skandal!«
»Fürstin Niu – eine Mörderin?«
»Niu Masahito muß von bösen Geistern besessen gewesen sein. Eine andere Erklärung für eine solche Untat gibt es nicht.«
»Kann es denn wirklich stimmen, daß Magistrat Ogyū gerade jene Nachforschungen behindert hat, die letztlich zur Aufdeckung der Verschwörung geführt haben?«
Kammerherr Yanagisawa erhob die Stimme, so daß sie die aller anderen übertönte. »Ich schlage vor«, rief er, »wir erlauben es dem ehrenwerten Magistraten, sich selbst zu dieser Sache zu äußern.«
Er klatschte in die Hände. Auf dieses Zeichen hin führten zwei Wachtposten einen taumelnden Magistraten Ogyū ins Zimmer. Sano starrte seinen einstigen Vorgesetzten verwundert an. Magistrat Ogyū sah aus, als hätte man ihn soeben aus dem Bett gezerrt. Das Gesicht des Magistraten war schlaff, und er war noch benommen vom Schlaf. Er trug einen Umhang, den er sich hastig über sein Nachtgewand geschlungen hatte. Als er Sano erblickte, wimmerte er und wankte rückwärts zur Tür. Doch die Wächter zerrten ihn nach vorn und stießen ihn vor dem Podest des Shōgun unsanft auf die Knie.
»We-welche Ehre, Eure Ho-hoheit«, brachte Ogyū stockend hervor und senkte den Kopf.
Der Shōgun musterte ihn mit ausdrucksloser Miene. »Habt Ihr versucht, Sano Ichirō davon abzuhalten, Nachforschungen über die Morde an Niu Yukiko und Noriyoshi anzustellen?«
»Ich? Oh … äh … nein, Hoheit«, stammelte Ogyū, der offensichtlich zu ängstlich und durcheinander war, als daß er überzeugend hätte lügen können.
Der Shōgun tauschte einen Blick mit dem Kammerherrn Yanagisawa, der ein düsteres Gesicht machte. »Seid Ihr Euch darüber im klaren, daß Fürstin Niu die Morde befohlen hatte, um ihren Sohn zu schützen?« fuhr Tokugawa Tsunayoshi schließlich fort. »Hätte Sano Ichirō nicht so hartnäckig seine Nachforschungen betrieben, was diese Morde betrifft – entgegen Euren Anweisungen –, wäre Fürst Nius Versuch, mich in der vergangenen Nacht zu ermorden, erfolgreich verlaufen.«
»Nein! Oh, nein«, stöhnte Ogyū. Am ganzen Körper zitternd, warf er sich vor dem Shōgun flach auf den Boden. Beinahe konnte Sano die Wogen des Entsetzens sehen, die von Ogyū aufstiegen. »Bitte, Hoheit!« rief er. »Bitte, versteht doch! Ich versichere Euch – hätte ich das alles gewußt, hätte ich niemals zugelassen …«
»Das reicht!« Der scharfe Befehl des Shōgun unterbrach abrupt Ogyūs Bitten und Betteln. »Wegen grober Pflichtvernachlässigung und weil Ihr mein Leben auf so leichtfertige und verräterische Weise in Gefahr gebracht habt, enthebe ich Euch hiermit Eures Amtes als Magistrat des Nordteils von Edo und verurteile Euch zu lebenslanger Verbannung auf die Insel Hachijo. Bis das Schiff in drei Monaten dorthin segelt, werdet Ihr im Gefängnis von Edo in Verwahrung gehalten.« Er nickte den Wächtern zu. »Schafft ihn fort.«
»Nein!« kreischte Ogyū. »Ich flehe Euch an, Hoheit, habt Gnade!«
Die Wächter packten ihn. Ogyū trat und wand und wehrte sich, doch sie trugen ihn rasch aus dem Zimmer. Sano hörte Ogyūs verzweifelte Schluchzer über den Flur hallen. Er senkte den Kopf, betroffen vom plötzlichen tiefen Sturz eines einstmals so mächtigen Widersachers. Ein Anflug von Entsetzen und Mitleid trübte seine
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