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Der Kirschbluetenmord

Der Kirschbluetenmord

Titel: Der Kirschbluetenmord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Joh Rowland
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während sich in seinem Innern ein bleiernes Gefühl der Müdigkeit ausbreitete, als hätte er ein Schlafmittel bekommen. Es ist vollbracht. Er fiel zu Boden. Durch eine Wolke aus Schmerz und Benommenheit, die immer dichter wurde, nahm er verschwommen wahr, wie die Männer des Shōgun ihn auf eine Trage legten und eine Decke über ihn ausbreiteten; wie durch Watte hörte er ihre raschen Schritte, als sie ihn aus Yoshiwara hinaustrugen; dann ging es eine dunkle Straße hinunter, und Sano blickte mit müden Augen zum gewaltigen, sternenfunkelnden Nachthimmel empor. Er kämpfte darum, wach zu bleiben, damit er dem Shōgun erklären konnte, was zu dem Mordanschlag geführt hatte und weshalb er, Sano, an Ort und Stelle gewesen war. Doch Wogen aus Schwärze umspülten sein Bewußtsein. Halb besinnungslos, träumte er.
    Er war tot. Sargträger brachten seinen Leichnam zu einem lodernden Scheiterhaufen.
    »Bitte«, flüsterte er. Er konnte nicht sterben, ohne seine Geschichte erzählt und endlich jemanden gefunden zu haben, der ihm glaubte.
    »Ruht Euch jetzt aus«, befahl eine schroffe Stimme. »Reden könnt Ihr später.«
    Aus seinem Alptraum gerissen, blickte Sano die steile Straße hinunter auf ein Fahrzeug, das er in seinem umnebelten Verstand für den brennenden Scheiterhaufen gehalten hatte. Doch es war ein Boot, das auf dem schwarzen Fluß neben der Anlegestelle von Yoshiwara langsam auf dem Wasser schaukelte und dessen Deck von flackernden Laternen beleuchtet wurde. Am einzigen Mast flatterte ein Wimpel, auf dem das Wappen der Tokugawas prangte. Als Sano über den Laufsteg an Bord getragen wurde, schaukelte und schwankte die Trage, und er stöhnte, als die Männer ihn in einer kleinen, hellen Kajüte behutsam auf weiche Kissen betteten. Dann erblickte Sano Tokugawa Tsunayoshis Gesicht über sich und hörte, wie eine Stimme den Bootsleuten den Befehl zum Ablegen erteilte. Jemand schnitt Sanos Kleidung auf und tupfte seine Wunden mit irgend etwas ab, das brannte und stach. Wieder schlug Sano die Augen zu.
    Gnädige Bewußtlosigkeit senkte sich auf ihn nieder, während das Boot ihn den Fluß hinunter in Richtung Edo trug.

30.
    D
    ie setsubun -Feiern waren vorüber. Der erste Morgen des neuen Jahres hüllte Edo in stille, gelassene Heiterkeit. Auf den menschenleeren Straßen lag nur hier und da noch ein bißchen Abfall, den die Straßenfeger übersehen hatten – eine weggeworfene Maske; ein paar zertretene Sojabohnen; einige Schnipsel farbigen Papiers: schweigende Erinnerungen an die ausgelassenen Feiern, die erst vor so kurzer Zeit geendet hatten. In der Nacht war ein klein wenig Schnee gefallen, was um diese Jahreszeit selten der Fall war; er überzog die Dächer mit einem kaum sichtbaren Hauch von Weiß. Die Sonne strahlte hell von einem eisblauen Himmel und verlieh der Stadt ein scharf konturiertes, beinahe kristallines Aussehen.
    Sano ritt langsam zum Haus seiner Eltern. In der vergangenen Nacht hatte der Shōgun den Befehl zu seiner Verhaftung aufgehoben; jetzt war Sano wieder ein freier Mann. Seine Augen tränten vor Kälte und schmerzten vor Müdigkeit, als er staunend eine Welt betrachtete, die sich auf eigenartige Weise verändert zu haben schien. Die Geschäfte waren des Feiertags wegen geschlossen. Erst später würden die Straßen sich mit Menschen füllen, die ihre Neujahrsbesuche machten; doch zu dieser frühen Stunde standen die Häuser noch still und schlafend da. Die mit Kiefernzweigen und Bambus geschmückten Türen waren zum Schutz gegen die Kälte geschlossen.
    Dies war die Stadt, in der Sano sein ganzes bisheriges Leben verbracht hatte. Ihm wurde klar, daß Edo doch nicht anders aussah als an jedem anderen Neujahrsmorgen. Nicht die Stadt – er selbst hatte sich verändert.
    Doch die Straßen und Häuser Edos verblaßten in Sanos Erinnerung, als er an die Nacht zurückdachte, die er im Schloß des Shōgun verbracht hatte. Dort hatten die Ärzte seine oberflächlichen Schnitt- und Schürfwunden behandelt, den tiefen Schnitt an seiner linken Schulter genäht und dann Kräuterumschläge aufgelegt, um den Schmerz zu lindern und einer Entzündung vorzubeugen. Diener hatten ihn gebadet und frisiert, hatten ihm saubere, warme Kleidung übergezogen und ihm Tee zu trinken gegeben.
    Dann – ohne vorherige Ankündigung und ohne die Zeit gehabt zu haben, über dieses Wunder zu staunen – war Sano vom Shōgun, dem Kammerherrn und dem Rat der Ältesten in privater Audienz empfangen worden.
    Tokugawa

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