Der Kirschbluetenmord
Maß an Verantwortung«, sagte Katsuragawa und blickte starr nach vorn. »Vielleicht habe ich aus Eifer, meine seit langem bestehende Verpflichtung Eurer Familie gegenüber einzulösen, überstürzt gehandelt. Ich hätte Euch nicht in ein Amt bringen dürfen, für das Ihr offensichtlich ungeeignet seid. Denn die größte Schuld an Eurem Scheitern tragt Ihr selbst, nicht wahr?«
Er wandte sich Sano zu. »Habt Ihr wenigstens versucht, den Wünschen Eurer Vorgesetzten nachzukommen? Habt Ihr versucht, den Anforderungen gerecht zu werden, vor die sie Euch gestellt haben? Habt Ihr Euch wenigstens bemüht, Euren Mangel an Eignung durch Fleiß, Gehorsam und Ergebenheit wettzumachen?«
Durch Katsuragawas Tadel aus der Betäubung gerissen, erwiderte Sano: »Was haben meine Mängel und Fehler mit alledem zu tun? Ich bin nicht aus dem Amt entlassen worden, weil meine beruflichen Leistungen zu schlecht, sondern weil sie zu gut waren! Ich habe einen Mord aufgedeckt, den Magistrat Ogyū lieber im verborgenen belassen hätte.« Er streckte die Hände aus. »Wie könnt Ihr von mir erwarten, einem Mann wie Ogyū ergeben zu sein? Einem Mann, der einen Unschuldigen zum Tode verurteilt, nur um seine Vertuschungsgeschichte aufrechtzuerhalten?« Sano hatte jetzt die Stimme erhoben, und es war ihm egal, ob jemand zuhörte und ob er Katsuragawa oder Ogyū beleidigte. Das Verlangen, sich zu verteidigen – sowohl gegen die Beschuldigungen, die andere gegen ihn erhoben, als auch gegen seine Selbstvorwürfe –, war zu stark. »Oder leugnet Ihr, daß es eine Vertuschungsgeschichte ist?«
»Sano -san .« Katsuragawa blieb stehen, verschränkte die dicken Arme vor der Brust und sagte in herablassendem Tonfall: »Genau das meine ich, wenn ich von einem Mangel an Eignung bei Euch spreche. Natürlich ist es eine Vertuschungsgeschichte! Und wärt Ihr der richtige Mann am richtigen Ort gewesen, hättet Ihr sofort erkannt, weshalb diese Vertuschung notwendig ist.«
Ohne Sanos empörten Ausruf zu beachten, fuhr Katsuragawa fort: »Angenommen, es würde öffentlich bekannt, daß Yukiko von irgend jemandem aus dem Hause Fürst Nius ermordet wurde. Was, glaubt Ihr, würde dann passieren? Oder falls Ihr beweisen könntet, daß dieser Jemand sogar ein Familienangehöriger Yukikos ist? Was ist, wenn der Shōgun sich dann veranlaßt sieht, die Ländereien der Nius zu beschlagnahmen und die ganze Familie zum Tode zu verurteilen? Stellt Euch vor, welche Auswirkungen eine solche Strafe auf dieses Land hätte!«
Katsuragawa hob die Hände zum Himmel. »Tausende und Abertausende rōnin, die nur darauf aus wären, den Tod ihres Herrn zu rächen! Und die Verbündeten der Nius und die anderen Daimyō warten nach neunzig Jahren Tokugawa-Herrschaft nur darauf, einen Grund für eine Rebellion zu bekommen. Wenn Ihr das alles zusammennehmt – zu welchem Ergebnis kommt Ihr dann?«
Katsuragawa beugte sich so weit vor, daß Sano die Poren in seiner dunklen Haut sehen konnte. »Blutvergießen. Weitere fünfhundert Jahre Krieg. Möchtet Ihr das? Nur um Eure Neugier zu befriedigen, was den Tod eines gemeinen Bürgers und einer jungen Frau betrifft? Würdet Ihr für den Frieden denn nicht das Leben eines unbedeutenden Ringers opfern? Eines Kretins, der anderen Menschen Verletzungen zugefügt hat, weil er sich nicht beherrschen konnte?«
Bisher hatte Sano noch nicht über die politischen Auswirkungen der Morde nachgedacht, und Katsuragawas Darlegungen besaßen eine erschreckende Logik. Doch irgend etwas stimmte nicht daran. Vor allem konnte Sano nicht glauben, daß Ogyū nur im Interesse des Friedens im Lande gehandelt hatte.
»Warum hat Magistrat Ogyū mir das alles nicht erklärt?« fragte er.
»Wahrscheinlich ging er davon aus, daß Ihr längst schon selbst darauf gekommen seid.« Katsuragawa wandte sich zur Seite und schritt bedächtig weiter.
Sano folgte ihm. »Glaubt Ihr wirklich, was Ihr da sagt? Und ist auch Magistrat Ogyū ehrlich dieser Meinung? Würde man dem Mörder, falls er einer der Nius ist, nicht die Erlaubnis erteilen, seppuku zu begehen? Die Familie würde ja nicht bestraft, wie es bei gemeinen Bürgern der Fall wäre. Und was die Tokugawas betrifft – sie sind zu mächtig, und das wissen die Daimyō. Deshalb würden sie keinen Aufstand wagen. Sie sind besser beraten, wenn sie sich an ihre Ländereien und ihren Reichtum halten – und an ihre Köpfe.«
Als Katsuragawa nicht sofort antwortete, fuhr Sano fort: »Bitte, denkt wenigstens darüber nach,
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