Der Kirschbluetenmord
Chance auf die Genesung des Vaters zunichte gemacht zu haben. »Bitte, verzeih mir. Gib nicht auf!«
Er legte die Hand auf die knochigen Finger des Vaters. Sie zuckten bei Sanos Berührung zurück. Für den alten Mann existierte er nicht mehr. Sano wünschte, er hätte seppuku begangen. Denn angesichts der schrecklichen Schande, die Sano auf sich geladen hatte und die seinen Vater ins Grab bringen würde, wäre dem alten Mann ein toter Sohn lieber als ein lebender.
»Chichive! «
Sanos Mutter stand neben ihm, zupfte ihn sanft am Ärmel und drängte ihn, sich zu erheben.
»Laß deinen Vater nun ruhen«, bat sie ihn inständig. »Möchtest du deine Sachen nicht ablegen und vor dem Abendessen ein Bad nehmen?«
Sano wandte sich von den flehenden Augen und dem zittrigen Lächeln ab, mit dem die Mutter ihn bat, sich so zu verhalten, als wäre ihrer aller Welt soeben nicht durch eine Katastrophe in Scherben zersprungen. Sano ging zur Tür.
»Wohin gehst du?« rief seine Mutter und eilte ihm nach. »Wann kommst du wieder?«
»Ich weiß es nicht.«
Dauerregen setzte ein und tränkte Sanos Kleidung, als er ziellos durch die Straßen irrte. Der Regen prasselte auf Ziegeldächer und tröpfelte von Dachvorsprüngen in Pfützen, die unter Sanos Sandalen klatschten. Das Licht der Lampen verwandelte die Fenster der Wohnhäuser in trübe gelbe Rechtecke, als Sano vorüberging. Die Spitzen der Feuerwachttürme verschwanden im Dunst und der Dunkelheit. Hin und wieder eilte ein Fußgänger an Sano vorbei, unter einem Schirm versteckt. Aus den Gassen hinter den Häusern konnte er das Rumpeln hölzerner Wagenräder und das Klappern von Eimern und Schöpfkellen hören: Die Männer, die den abendlichen Abtrittsdünger sammelten, machten ihre Runden. Der Gestank von Schmutz und Fäkalien vermischte sich mit den Kochdünsten und den Gerüchen nach feuchter Erde, Holz und Kohlenrauch.
Seit Stunden ging Sano nun schon durch die Straßen; wieviel Zeit vergangen war, wußte er nicht. Die Beine schmerzten ihn, doch sein aufgewühltes Inneres ließ ihn nicht zur Ruhe kommen. Seine Gedanken hatten sich ausschließlich mit den beiden einzigen Vorgehensweisen beschäftigt, die ihm noch offenstanden – doch ohne daß er zu einer Entscheidung gelangt wäre: Er konnte versuchen, den Riß zwischen ihm und Katsuragawa Shundai zu kitten und seine Karriere zu retten, oder er konnte seppuku begehen.
Doch so oder so – er mußte die Nachforschungen der Mordfälle aufgeben. Sie würden ihm nur weitere Schande einbringen und einen noch schmählicheren Tod für ihn und seinen Vater bedeuten.
Aber eben dies wollte Sano nicht akzeptieren. Sein Verlangen nach Wahrheit und Gerechtigkeit verwehrte ihm ein derart passives Hinnehmen einer Niederlage, mochte der »Weg des Kriegers« ihm noch so nachdrücklich Sohnestreue und Gehorsam vorschreiben.
Und deshalb irrte Sano nun ziellos durch die Stadt – jedenfalls glaubte er es, bis er die Mauern des Gefängnisses von Edo vor sich aufragen sah. Auf den Brustwehren flackerten Fackeln und spiegelten sich im Wassergraben; die Wachen am Tor trugen Regenumhänge über ihren Rüstungen. Das Bauwerk schimmerte in Dunst und Dunkelheit wie ein gespenstisches, verwunschenes Schloß. Sano hätte nie geglaubt, an einen so abscheulichen Ort zurückzukehren; nun aber marschierte er, ohne zu zögern, über die Brücke und zu den Wachtposten am Tor.
»Ich bin yoriki Sano Ichirō«, sagte er in der Hoffnung, daß die Männer noch nicht von seiner Entlassung gehört hatten. »Ich möchte Doktor Itō Genboku sprechen.« Der Wunsch, Itō noch einmal aufzusuchen, war keinem Plan, keinen zielgerichteten Gedanken entsprungen; nun aber erkannte Sano, daß er unbewußt das Richtige getan hatte. Auch Doktor Itō hatte für seine Ideale Opfer gebracht; er würde Sanos Zwangslage begreifen.
Offensichtlich hatten die Wachtposten noch nicht von Sanos Entlassung erfahren, denn sie ließen ihn durchs Tor. Statt ihn wieder durch das Gefängnisinnere zu geleiten, führte ein Posten ihn diesmal um die Gebäude herum, über mehrere Höfe hinweg und durch Passagen hindurch, bis sie zu einer Hütte an der entfernten Mauerseite gelangten. Durch das einzige Fenster schien schwaches Licht, und aus dem Dachfenster stieg Rauch in die Höhe.
Ohne anzuklopfen, öffnete der Posten die Tür. »Itō. Hier ist jemand, der Euch sprechen möchte.« Er verbeugte sich vor Sano und ging.
Da es keine Veranda oder einen Eingangsflur gab, ließ Sano seine
Weitere Kostenlose Bücher