Der Kirschbluetenmord
einstellte. Er mußte weitere Angriffe des geheimnisvollen Beobachters vermeiden. Und nicht zuletzt mußte er, dringender als je zuvor, Magistrat Ogyū davon überzeugen, daß es notwendig war, die Nachforschungen weiterzuführen – und die Erlaubnis bekommen, den jungen Fürsten Niu zu vernehmen.
Sanos Gesicht verzog sich zu einer Grimasse der Bitterkeit. Welche Erfolgschance hatte er? Ogyū, der die Nius so eilfertig geschützt hatte, würde nicht gerade in Jubelrufe ausbrechen, wenn er von Sanos Besuch bei Midori erfuhr. Doch ohne die Aussage des Mädchens hatte Sano nichts gegen den jungen Fürsten Niu in der Hand. Er mußte Ogyū vom Besuch in Hakone erzählen.
Kaum hatte Sano das äußere Büro in der Villa des Magistraten betreten, wußte er, daß irgend etwas nicht stimmte. Alle Schreiber, Boten und Diener hielten abrupt bei der Arbeit inne und starrten ihn an. Sano blieb im Türeingang stehen. Vor Verlegenheit schoß ihm eine heiße Röte ins Gesicht, und die Stille klingelte ihm in den Ohren. Dann – so plötzlich, wie sie innegehalten hatten – wandten alle sich wieder ihrer Arbeit zu. Doch die Stimmen waren leiser als zuvor, und die Blicke von Sano abgewendet.
Ohne von seinem Schreibpult aufzuschauen, sagte der Leiter der Amtsstube: »Ihr werdet in Magistrat Ogyūs Empfangszimmer erwartet, yoriki Sano -san .«
Von innerer Unruhe erfüllt und mit angespannten Muskeln, ging Sano über den Flur zur Tür des Empfangszimmers. Dort blieb er zögernd stehen; denn er hörte, daß drinnen mit gedämpften Stimmen ein Gespräch geführt wurde.
Sano holte tief Luft und klopfte an.
»Tretet ein«, rief Ogyūs Stimme.
Mit trockenem Mund und klammen Händen öffnete Sano die Tür. Er schluckte schwer, als er drei Männer im Zimmer knien sah – zwei zur Rechten von Ogyūs Schreibpult, einer zur Linken.
Sano verbeugte sich. »Ich grüße Euch, ehrenwerter Magistrat. Hayashi -san . Yamaga -san .« Und jedem anderen wäre Sano gerade jetzt lieber begegnet als dem dritten Besucher, einem untersetzten Mann mit derben Gesichtszügen, der links von Ogyū saß. »Guten Tag, Katsuragawa -san. «
Was hatte die Anwesenheit der beiden yoriki zu bedeuten? Und vor allem: Was tat Katsuragawa Shundai hier? Seit dem letzten Besuch, den er Katsuragawa gemeinsam mit seinem Vater abgestattet hatte, hatte Sano seinen Förderer nicht mehr gesehen.
Die Männer erwiderten die Begrüßung mit ernster Förmlichkeit. Ogyū bedeutete Sano, sich niederzuknien. Sano folgte der Aufforderung und versuchte, in den vier betont ausdruckslosen Gesichtern zu lesen.
»Nach reiflicher Überlegung«, sagte Ogyū, »bin ich zu der Ansicht gelangt, daß Ihr recht hattet, was den Tod Niu Yukikos und Noriyoshis betrifft.«
Sano blinzelte erstaunt. »Tatsächlich?«
»Ja. Sie haben keinen shinjū begangen. Sie wurden ermordet.«
Vor Erleichterung und Hochstimmung kam Sano gar nicht erst auf den Gedanken, Ogyū nach dem Grund für seinen plötzlichen Sinneswandel zu fragen. Er dachte nur an die Freude, statt einer inoffiziellen, verbotenen Nachforschung eine unbehinderte, offizielle Untersuchung anstellen zu dürfen. Er stellte sich vor, wie sämtliche Türen der Stadt sich ihm öffneten. Mit Ogyūs Kapitulation war das größte Hindernis auf dem Weg zur Wahrheit beiseite geräumt. Während in Sanos Kopf bereits Pläne reiften, blickte er seinen Vorgesetzten voller Dankbarkeit an.
»Ehrenwerter Magistrat, ich …«
Ogyū hob Schweigen gebietend die Hand. »Da Ihr aus Eurem Amt fern wart, blieb mir keine andere Wahl, als die weiteren Nachforschungen Yamaga -san und Hayashi -san zu übergeben. Sie werden Euch mitteilen, was sie herausgefunden haben.«
Sano war dermaßen überrascht, daß er nur mühsam die Fassung wahrte, als er nun seine beiden Amtskollegen anschaute. Die Nachforschungen, für die er sein Leben riskiert und so viel erduldet hatte, waren anderen übertragen worden! Ein schreckliches Gefühl des Verlusts stieg in ihm auf.
»Nachdem wir die entsprechenden Untersuchungen angestellt hatten, haben wir Raikō verhaftet, den Ringer«, sagte Yamaga. »Gestern wurde er des Mordes an Niu Yukiko und Noriyoshi überführt. Heute, am frühen Morgen, hat seine Hinrichtung stattgefunden.«
»Nein.« Sano warf fassungslose Blicke auf Ogyū und Katsuragawa. Die Miene des Magistraten blieb unbewegt; auf Katsuragawas Gesicht spiegelte sich Wachsamkeit. »Das kann doch nicht sein! Was für Untersuchungen? Wie kommt Ihr auf die Idee, daß Raikō der
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