Der Kirschbluetenmord
ab und half den Trägern, vor dem Tor des Hauses die Bündel vom Pferd zu laden. Er bezahlte die Männer und schickte sie fort. Dann stand er allein in der zunehmenden Dunkelheit und grübelte über einen Gedanken nach, der so finster war wie die schwärzeste Stunde der Nacht.
Als Samurai hatte Sano immer gewußt, daß irgendwann eine Zeit kommen konnte, da er seppuku begehen mußte, um einer Schande zu entgehen oder dafür zu büßen. Sein Inneres sagte ihm, daß diese Stunde nun gekommen sei. Nach den Geschehnissen der letzten Tage und Stunden konnte nur der rituelle Selbstmord die Ehre seines Namens und die seiner Familie wiederherstellen. Doch mochte der kriegerische Teil seines Geistes die Läuterung und Befreiung durch den Tod auch willkommen heißen – er mußte diesem Gedanken entsagen. Sein Leben gehörte erst dann wieder ihm, wenn Tsunehikos Tod gerächt, Raikōs Name von aller Schande gereinigt und Yukiko, Noriyoshi und Wisterie Gerechtigkeit widerfahren war.
Seufzend raffte Sano sich auf, sein Pferd in den Stall zu führen und seine Bündel im Hauseingang zu verstauen. Dann schob er die Tür zum Hauptzimmer auf. Es wäre ihm leichter gefallen, sich einen Dolch in den Leib zu stoßen. Er hatte Angst davor, seinem Vater gegenüberzutreten; er hatte Angst, wieder das Zeichen des Todes auf dem Gesicht des alten Mannes zu sehen. Deshalb war er zuerst erleichtert, als er das Zimmer leer vorfand. Dann aber sah er etwas, das ihn sehr viel mehr beunruhigte.
Die Tür, die das Hauptzimmer mit dem Schlafraum verband, stand offen. Sano konnte seine Mutter sehen. Sie stand am Fenster und hatte ihm den Rücken zugewandt. Doch an ihren gekrümmten, zuckenden Schultern war ihre Verzweiflung deutlich abzulesen. Sanos Vater lag auf dem Futon; er hatte die Augen geschlossen. Tiefer, rasselnder Husten schüttelte seinen Körper fast pausenlos.
Angst stieg in Sano auf. So früh hatte er seinen Vater noch nie zu Bett gehen sehen. Und die Anzahl der Gegenstände neben dem Bett, die der Pflege des Kranken dienten – Teeschalen, Waschschüsseln, zerknüllte Tücher, Gefäße mit Arzneimitteln –, ließen erkennen, daß der alte Mann schon den ganzen Tag im Zimmer lag, wenn nicht länger.
»Chichive?« sagte Sano.
Sein Vater bewegte sich und schlug langsam die Augen auf. Ein düsterer Ausdruck erschien auf seinem eingefallenen Antlitz und schwand plötzlich wieder, als hätte schon die Bewegung der Gesichtsmuskeln den alten Mann völlig erschöpft.
»Ichirō«, sagte Sanos Mutter und drehte sich mit angestrengtem Lächeln zu ihm um. »Was für eine Überraschung. Wir haben dich gar nicht erwartet.«
Sano ging zu seiner Mutter und umarmte sie. Sie war stets eine stämmige, robuste Frau gewesen; jetzt schien sie kleiner und zerbrechlicher geworden zu sein, als würde die Krankheit ihres Mannes ihr die Kraft entziehen. Sano kniete neben seinem Vater nieder.
»Mein Sohn«, wisperte der alte Mann. »Warum bist du gekommen? Müßtest du nicht auf deiner Amtsstube sein? Selbst wenn du für heute deine Arbeit getan hast … die anderen yoriki möchten bestimmt, daß du noch in den Kasernen bleibst.«
Sano wurde das Herz schwer. Er fragte sich, ob er sich irgendeine Ausrede überlegen sollte. Oder sollte er seinem Vater erst dann erzählen, daß er sein Amt und seinen Gönner verloren hatte, wenn der alte Mann wieder kräftiger geworden war – falls er es je wieder wurde? Es wäre ein Akt des Mitleids.
Die knochige Hand des alten Mannes kam unter der Decke hervor. »Geh«, sagte er und drückte schwach die Hand des Sohnes. Ein weiterer Hustenanfall schüttelte seinen Körper. »Du darfst dich nicht vor deinen Pflichten drücken.«
»Chichive. « Sano schluckte. In seiner Kehle saß ein trockener Klumpen. Nein, er konnte nicht lügen. Sein Vater war stets rückhaltlos ehrlich zu ihm gewesen, und er hatte ebenfalls Ehrlichkeit verdient. »Es tut mir leid, aber ich muß dir etwas Unerfreuliches sagen.«
Und dann erzählte Sano alles, was geschehen war – vom Beginn seiner Nachforschungen an über den shinjū bis hin zum Bruch mit Katsuragawa Shundai. Als Sano endete, wappnete er sich gegen die Anschuldigungen des Vaters.
Doch der alte Mann sagte nichts. Statt dessen blinzelte er langsam; dann wandte er das Gesicht ab. Sano sah, wie das schwache Licht in den Augen seines Vaters noch schwächer wurde.
»Es tut mir leid, chichive« , sagte er. Die stumme Zurückweisung erschreckte ihn weniger als die Aussicht, die letzte
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