Der Kirschbluetenmord
Abartigkeiten aufzuhören. Auch ich habe geweint. Ich hatte schreckliche Angst. Der junge Herr rief, daß die Jungen unter Drogen stünden und daß sie nicht tot seien und daß er ihnen kein Leid zugefügt habe. In diesem Moment stöhnte der Junge und setzte sich auf. Er schaute Fräulein Yukiko und den jungen Herrn an … und dann sah er die Schnittwunden an seinem Körper. ›Was habt Ihr mir angetan?‹ schrie er. ›Wer seid Ihr? Wo bin ich?‹
Auch Fräulein Yukiko fing zu schreien an. Der junge Herr befahl beiden, still zu sein. Oh, er war schrecklich wütend! Als der Junge nicht zu schreien aufhörte, da hat der junge Herr … da hat er …«
O-hisas Stimme wurde so leise, daß Sano sich nahe zu ihr beugen mußte, um ihre Worte zu verstehen. »Der junge Herr zog sein Schwert und schlug dem Jungen den Kopf ab.« O-hisa barg das Gesicht in den Händen und brach in wildes Schluchzen aus.
Sano schüttelte den Kopf. In Gedanken führte er die Geschichte zu Ende: Der blutüberströmte Fußboden. Yukikos Entsetzen. O-hisa, die sich in namenlosem Grauen draußen an die Wand preßte. Fürst Niu, dessen Wut nach seiner impulsive Gewalttat verrauchte und der bereits darüber nachdachte, wie er den Mord vertuschen konnte.
Ob er es bedauerte, daß seine Vorliebe Jungen aus seiner eigenen sozialen Schicht galt und keinen Eta oder den Söhnen gemeiner Bürger, die er straflos hätte töten können?
»Fräulein Yukiko fiel in Ohnmacht«, fuhr Midori fort. »Der junge Herr rief nach seinen Leuten. Dann hob er Fräulein Yukiko auf und trug sie aus dem Zimmer.« O-hisas zitternde Stimme schilderte die Szene genau so, wie Sano sie sich vorgestellt hatte. »Dann kamen die Männer des jungen Herrn. Sie brachten die Leiche fort. Als sie gegangen waren, konnte ich Yu kiko auf dem Flur weinen hören. Und ich hörte, wie der junge Herr zu ihr sagte: ›Falls du jemandem davon erzählst, töte ich dich.‹«
Deshalb also hatte Fürst Niu die eigene Schwester ermordet! Der Fürst wußte sehr wohl, daß Yukikos ausgeprägtes Empfinden für Anstand und Sitte sie daran hindern würde, für immer zu schweigen. Und Noriyoshi mußte die Morde ebenfalls entdeckt haben, entweder durch Bespitzelung oder weil Fürst Niu es versäumt hatte, den Jungen zurückzuschicken, welchen Noriyoshi ihm zugeführt hatte.
»Der junge Herr wußte, daß Yukiko es früher oder später jemandem erzählen würde. Deshalb hat er sie getötet«, sagte O-hisa und bestätigte damit Sanos Vermutung. »Hätte ich doch den Mund aufgetan! Dann wäre Fräulein Yukiko noch am Leben. Es war meine Pflicht, mich für sie zu opfern, aber ich habe versagt.« Sie warf sich Sano in die Arme; ihre Hände krallten sich in seine Schultern. »Ihr Geist verfolgt mich in meinen Träumen. Ich muß sterben, damit er Ruhe findet! Ich bitte Euch, verhaftet mich!«
Sano hielt sie fest. »Es ist nicht Eure Schuld, O-hisa«, sagte er und bedauerte die unerschütterliche Treue, die in dem Mädchen den Wunsch erweckte, an Fürst Nius Stelle bestraft zu werden. »Wenn es stimmt, was Ihr sagt, ist allein der junge Herr für den Tod seiner Schwester verantwortlich. Wollt Ihr mir helfen, dafür zu sorgen, daß er zur Rechenschaft gezogen wird?«
O-hisa riß bestürzt die Augen auf. »Ich?« flüsterte sie. »Oh, nein.«
»Wenn Ihr mir helft, könnt Ihr Yukikos Geist besänftigen«, drängte Sano. »Bitte!«
»Aber was kann ich denn tun?« Ein Schimmer der Hoffnung lag auf O-hisas Gesicht und verdrängte Furcht und Entsetzen.
»Begleitet mich morgen zum Rat der Ältesten«, sagte Sano. »Erzählt dort Eure Geschichte.« Und er würde die seine erzählen. »Der Rat wird Fürst Niu seiner gerechten Strafe zuführen.« Denn sobald der Rat der Ältesten erst O-hisas Aussage gehört hatte, konnte er gar nicht anders handeln; da war Sano sicher. Sohn eines Daimyō oder nicht – Fürst Niu würde angesichts der Schwere seines Verbrechens seiner gerechten Strafe nicht entgehen.
»Nein«, murmelte O-hisa. »Ich kann meinen Herrn nicht verraten. Was mit mir geschieht, ist mir egal. Aber er könnte auch meine Familie bestrafen, und das darf ich nicht zulassen.« Sie wich vor Sano zurück. »Ich muß jetzt gehen. Ich bin schon viel zu lange fort. Bestimmt sucht man schon nach mir.«
Sano wußte, daß er O-hisa gebeten hatte, ein sehr großes Risiko einzugehen, doch er konnte ihre Lage besser als sie selbst einschätzen. »Wahrscheinlich ahnt Fürst Niu, daß Ihr seine Gewohnheiten kennt und über
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