Der Kirschbluetenmord
stieß sie mit erhobener Stimme hervor. »Ich bin schuld, daß Fräulein Yukiko tot ist!«
»Pssst!« Sano ergriff O-Hisas Arm und zog sie tiefer in den Wald. »Wie meint Ihr das? Ihr habt Yukiko doch nicht ermordet, oder?« Sano konnte nicht glauben, daß diese zerbrechliche, empfindsame Frau eine Mörderin war.
O-hisa antwortete auf die für sie typische Weise: Sie brach in Tränen aus. Sano wollte sie trösten, doch sie mußten fort von hier. Es war viel zu gefährlich. Jeden Moment konnten sie von einer Streife entdeckt werden. Sano packte O-hisas Schultern und schüttelte die Frau.
»Was meint Ihr damit?« fragte er mit scharfer Stimme. »Sagt es mir!«
O-hisas Schluchzer verebbten schlagartig. In ihren Augen lagen Zorn und Verwunderung, als sie Sano nun fest anblickte. Dann stieß sie hervor: »Fräulein Yukiko ist gestorben, weil ich geglaubt hatte, Fürst Niu würde diese Jungen ermorden.« Mit trotzigem Mut straffte sie sich und hob den Kopf. »Die Ehre verlangt von mir, daß ich diese Schuld begleiche, indem ich mir das Leben nehme, aber … ich bin ein Feigling. Deshalb bitte ich Euch, mich zu verhaften.«
Sano ließ die Frau los und warf einen nervösen Blick auf das Haus. »Warum habt Ihr mir nicht gesagt, daß Ihr Euch die Schuld am Tod Yukikos gebt, O-hisa?« flüsterte er. Hier, endlich, war jene Person, die ihm sagen konnte, weshalb Fürst Niu seine Schwester und Noriyoshi ermordet hatte. Doch wenn O-hisa sich nicht schnellstens klar ausdrückte, mußte Sano fliehen, bevor er Näheres erfahren konnte.
O-hisa stieß einen Wortschwall hervor, als hätte sie das Verlangen, jemandem Geheimnisse anzuvertrauen, die sie viel zu lange in ihrem Innern verschlossen hatte. »Ich bin letzten Herbst zur Familie Niu gegangen, weil ich Arbeit suchte«, sagte sie. »Nachdem ich drei Wochen im yashiki in Edo verbracht hatte, schickte der Hausmeister mich hierher in die Sommervilla, als Dienerin des jungen Herrn. Er kommt stets hierher, wenn er seines Gesundheitszustands wegen die Stadt verlassen muß. Es war ein warmer Tag. Am Zimmer des jungen Herrn stand das Fenster offen, und als ich vorüberging, warf ich zufällig einen Blick hinein. Und da sah ich … sah ich, was auch Ihr vorhin gesehen habt.
Zwei Nächte darauf geschah das gleiche, mit einem anderen Jungen! Ich dachte, Fürst Niu hätte die Jungen ermordet. Sie lagen da wie tot … und dann das viele Blut! Und später sind die Männer des jungen Herrn gekommen und haben die Jungen fortgebracht. Zuerst habe ich keinem etwas davon gesagt. Es ist nicht an mir, irgend etwas über meinen Herrn zu erzählen. Doch nach dem dritten Mal konnte ich den Gedanken nicht mehr ertragen, daß der Herr noch weitere Jungen tötet. Deshalb … deshalb habe ich Fräulein Yukiko davon erzählt. Sie war immer sehr freundlich zu mir, wenn ich mit ihr geredet habe, und …« O-hisa versagte die Stimme.
»Was hat Yukiko unternommen?« fragte Sano und verbarg seine Ungeduld, als O-hisa darum kämpfte, die Fassung wieder zu erlangen.
»Sie hat mir nicht geglaubt. Sie liebte ihren Bruder und konnte sich nicht vorstellen, daß er etwas Böses tat. Aber sie wollte sich selbst Gewißheit verschaffen. Als der junge Herr das nächste Mal hierher kam, ist sie ihm gefolgt. Ich stand dort« – sie zeigte auf das Fenster – »und habe beobachtet, als sie hergekommen ist. Ohne anzuklopfen hat sie die Tür geöffnet und das Zimmer betreten.« O-hisa schluckte. Ihre Hand bewegte sich zum Mund.
Sano mußte an Midoris Aussage denken. Das Mädchen hatte erklärt, Yukiko habe eines Abends allein das Haus verlassen, vor einigen Wochen. Damals war Sano diese Aussage unbedeutend erschienen. Jetzt aber wußte er, daß Yukiko hierher gekommen war, um ihren Bruder zur Rede zu stellen. Sano bewunderte den Mut und das Vertrauen Yukikos zu Fürst Niu – genauso, wie er die verhängnisvolle Unschuld des Mädchens bedauerte und den tödlichen Fehler, in die Privatsphäre ihres Bruders eingedrungen zu sein.
»Fürst Niu war mit einem Jungen zusammen, nicht wahr?« murmelte Sano.
Ein energisches Nicken. »Der Junge hatte Schnittwunden an Kehle und Brust. Und unser junger Herr zog sich gerade an. Als er Fräulein Yukiko sah, wurde er sehr wütend. Er beschimpfte sie, daß sie ohne seine Erlaubnis in sein Zimmer gekommen sei, und schlug ihr ins Gesicht. Fräulein Yukiko fing an zu weinen. Sie fragte den jungen Herrn, wie er unschuldige Jungen ermorden könne, und flehte ihn an, mit diesen …
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