Der Kirschbluetenmord
Samurai bog um eine Gebäudeecke. Die Männer trugen Flaggen, auf denen das Wappen des Asano-Klans prangte: ein Kreuz im Quadrat. Vor den Samurai huschten Läufer von einer Straßenseite zur anderen.
»Aus dem Weg!« riefen sie. »Verbeugt euch! Verbeugt euch!«
Sano sah, daß sämtliche Passanten sich beeilten, der Aufforderung Folge zu leisten. Sie ließen ihre Lasten fallen, sanken auf die Knie, die Arme nach vorne ausgestreckt, und verbeugten sich so tief, daß die Stirn den Boden berührte. Jeder wußte, daß die Samurai nicht zögern würden, kirisute auszuüben – das Recht, jeden gemeinen Bürger mit dem Schwert niederzuhauen und zu töten, der sich nicht schnell genug verbeugte, wenn ein Daimyō mit seinen Gefolgsleuten und Dienern vorüberzog.
Sano rannte los. Er hoffte, die Straße überqueren zu können, bevor die Prozession heran war. Doch die vielen knienden Passanten versperrten ihm den Weg.
Der Zug bewegte sich dröhnend und lärmend vorüber. Zuerst die Reiter, hochmütig und aufrecht; dann kamen Hunderte von Dienern, die Körbe voller Lebensmittel und Schätze trugen. Dann folgten die Fußsoldaten mit ihren typischen, ruckartigen Marschtritten. Schließlich erschien die leuchtendbunte Sänfte des Daimyō, gefolgt von endlosen Regimentern weiterer Samurai, Diener und Fußsoldaten mit großen, runden Strohhüten.
Sano rannte zur Seite; er hoffte, die Straße hinter dem Zug überqueren zu können. Er durfte Fürst Niu nicht aus den Augen verlieren! Doch er kam einfach nicht auf die andere Seite, denn die Fußsoldaten, die in engen Reihen vorübermarschierten, füllten die Straße bis zu beiden Seiten vollkommen aus. Ungeduldig trat Sano von einem Fuß auf den anderen. Er war gezwungen, so lange zu warten, bis der ganze Zug vorüber war.
Endlich war es soweit. Die gemeinen Bürger erhoben sich und wandten sich wieder ihren Beschäftigungen zu. Sano stürmte über die Straße und in die Gasse hinein – wo er feststellen mußte, daß Fürst Niu spurlos verschwunden war.
Sano verfluchte sein Pech. Er rannte durch die Gassen und fragte Passanten und Ladenbesitzer: »Ist hier ein junger, berittener Samurai vorbeigekommen?«
Doch niemand hatte einen solchen Reiter gesehen. Entweder hatte die Prozession des Daimyō die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich gezogen, oder der Anblick eines einzelnen Reiters war hier nicht ungewöhnlich genug, als daß die Leute ihn sich gemerkt hätten.
Doch Sano wollte nicht aufgeben. Er kletterte eine wackelige Leiter zu einem der Feuerwachttürme hinauf und blickte über die Hausdächer hinweg in die von Menschen wimmelnden Straßen. In der Ferne erblickte er mehrere Reiter, konnte aber nicht erkennen, ob Fürst Niu einer von ihnen war. Sano wollte gerade die Leiter hinuntersteigen, als er in einer Gasse ganz in der Nähe eine vertraute Gestalt aus der Tür einer Gaststätte kommen sah.
Kirschenesser beschirmte die Augen mit der Hand gegen die Sonne und reckte den Hals, als würde er nach jemandem Ausschau halten. Er trug ein langes, sperriges Bündel bei sich, das er sich über die Schulter gelegt hatte; es schlug ihm rhythmisch gegen den Rücken, als er sich umwandte und in Laufschritt verfiel.
Sano kletterte hastig die letzten Leitersprossen hinunter, sprang auf den Boden und nahm sofort die Verfolgung Kirschenessers auf. Er erinnerte sich, daß Fürst Niu den shunga- Händler an diesem Tag zu sich befohlen hatte; Kirschenesser sollte im yashiki der Nius sein Geld abholen. Vielleicht hatten die beiden sich darauf geeinigt, sich anschließend noch einmal zu treffen, weit vom Anwesen der Nius entfernt. Falls Kirschenesser ihn nicht zum Fürsten führte, wollte Sano zum Geschäft des Schwertschmiedes zurückkehren, um dort weiter auf O-hisa zu warten.
Der shunga -Händler schien zu befürchten, daß jemand ihm folgte. Immer wieder blickte er über die Schulter; immer wieder huschte er um Gebäudeecken oder versteckte sich hinter öffentlichen Anschlagtafeln. Er verschwand in Läden und Teehäusern, blieb dort eine Zeitlang, steckte vorsichtig sein häßliches Gesicht zum Türeingang hinaus und schaute nach rechts und links, bevor er wieder auf die Straße trat. Einmal blieb er so lange in einem Teehaus, daß Sano sich fragte, ob Kirschenesser dort genau jenes Schicksal ereilt hatte, vor dem er sich offensichtlich so sehr fürchtete – was immer es auch sein mochte. Dann aber wurde Sano schlagartig klar, was geschehen war. Er rannte in die nächste Gasse hinein,
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