Der Kirschbluetenmord
Gestikulieren, der Zorn in seiner Stimme und sein Gesichtsausdruck kamen Sano übermäßig theatralisch vor. Fürst Niu spielte seinem Publikum etwas vor, wie ein Schauspieler, und lenkte dessen gerechtfertigten Zorn auf die Tokugawas. Ging es dem Fürsten wirklich darum, daß der Shōgun ihn und die Angehörigen der anderen Daimyō-Klans ungerecht behandelte?
Die Versammelten jedenfalls reagierten begeistert auf Fürst Nius theatralische Vorstellung. »Ja! Ja! Ja!« Der Fußboden erzitterte, als die Männer aufsprangen. Metall scharrte, als sie ihre Schwerter zückten und emporreckten.
Fürst Niu griff hinter den bemalten Wandschirm. Er hielt zwei Gegenstände in die Höhe: eine geöffnete Rolle Papier, die zur Hälfte mit Schriftzeichen bedeckt war, und einen Schreibpinsel. »Dann ist es an der Zeit, unseren Schwur zu besiegeln«, verkündete er.
Er kniete nieder und legte die Rolle und den Pinsel aufs Podest. Er zog seinen Dolch. Schlagartig breitete sich Stille im Zimmer aus, als Fürst Niu sich die Handfläche aufschlitzte. Dann tauchte er den Pinsel in sein Blut und setzte die Schriftzeichen seines Namens unter den Text des Dokuments. Wenngleich er Schmerzen verspüren mußte, blieb sein Gesicht unbewegt; doch einige der jungen Männer stöhnten, als sie es Fürst Niu gleichtaten. Einer nach dem anderen stiegen sie aufs Podest, schnitten sich die Handfläche auf, setzten ihren Namen auf die Schriftrolle und kehrten an ihre Plätze zurück.
Sano brannte die Handfläche vom bloßen Zuschauen. Diese Männer waren zwar tollkühn und verrückt, aber sie meinten es offenbar ernst. Ein Blutschwur galt als heilig. Sano hätte alles gegeben, um zu erfahren, was der Text auf der Rolle besagte.
Als die Männer fertig waren, erhob sich Fürst Niu. »Ein Gedicht zum Gedenken an dieses Ereignis«, verkündete er und rollte das Schriftstück zusammen. Ein falsches Lächeln umspielte seine Lippen. Er gestikulierte mit der zusammengerollten Urkunde und zitierte:
»Die Sonne senkt sich
auf die Wiese hernieder –
Glück und Segen!
Denn das neue Jahr,
es naht heran.«
Sano hatte diesen Vers – alles andere als ein Meisterwerk – noch nie gehört, und er verstand auch dessen Bedeutung nicht. Doch Fürst Nius Mitverschwörer brachen in wilden Jubel und fröhliches Lachen aus, das die Spannung löste, die während des Blutschwurs geherrscht hatte. Dann trug Fürst Niu mit lauter Stimme weitere Totengedichte für die Tokugawas vor, was bei seinen Anhängern noch größere Begeisterung hervorrief. Das Haus erbebte unter ihren donnernden Beifallsrufen.
»Bald werden wir unseren Vätern beweisen, daß wir wahre Samurai sind!« rief Fürst Niu. »Wir werden ihre Herzen mit Stolz erfüllen, daß wir ihre Söhne sind!«
Zum erstenmal hörte Sano wirkliche Leidenschaft in Fürst Nius Stimme, und plötzlich wurde ihm klar, daß Niu Masahito dies alles nur seines Vaters wegen tat, während die anderen jungen Männer nach Macht und Ruhm für ihre Generation strebten. Diese Einsicht vermittelte Sano ein unerwartetes und ungewolltes Gefühl der geistigen Verwandtschaft mit Niu Masahito. Ihnen beiden bedeuteten die Pflichten eines Sohnes sehr viel – allerdings mit dem Unterschied, daß Fürst Niu von irgendeiner verschrobenen Art von Liebe dazu getrieben wurde, seinen Vater um den zweifelhaften Preis fragwürdiger Erfolge wegen der schrecklichen Gefahr auszusetzen, einen Verräter in der Familie zu haben. Sano verspürte den heftigen Wunsch, weitere Einzelheiten über das Komplott zu erfahren. Auch wenn er nun genug wußte, um Fürst Niu vor Gericht zu bringen, verlangte es die Pflicht von ihm, den Behörden so genaue Informationen zu übermitteln wie nur möglich.
Sano blickte über die Schulter: Die Wachtposten waren nirgends zu sehen. Wie lange konnte er noch bleiben, ohne daß sie ihn erwischten?
Ein plötzlicher Abfall des Geräuschpegels im Innern des Zimmers lenkte Sanos Aufmerksamkeit wieder zum Fenster. Erneut drückte er ein Auge an das Loch in der Papierbespannung. Er sah, wie die Versammelten sich einem Wachtposten zuwandten, der ins Zimmer gekommen war.
»Was ist?« fragte Fürst Niu und wischte sich, atemlos vor Anstrengung, mit dem Ärmel seines Kimonos den Schweiß von der Stirn.
Der Wachtposten verbeugte sich. »Ich bitte um Vergebung, daß ich störe, Herr, aber ich muß Euch vor einem Verräter warnen, der sich unbefugt auf dem Anwesen befindet. Im westlichen Waldstück hätten wir ihn beinahe
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