Der Kirschbluetenmord
seinen Lebenswillen zurückerlangen und gesunden.
Der Mittag kam und ging vorüber. Auf den Straßen wurde es stiller, als die Handwerker ihre Mahlzeiten zu sich nahmen; bald darauf herrschte wieder rege Betriebsamkeit, nachdem die Männer an ihre Arbeitsplätze zurückgekehrt waren. Doch immer noch war keine Spur von O-hisa zu sehen. Sanos Zuversicht geriet ins Wanken.
Er dachte über mögliche Gründe für O-hisas Fortbleiben nach. Vielleicht hatte Fürst Niu beschlossen, länger in der Sommervilla zu bleiben, und hatte die Dienerschaft bei sich behalten. Vielleicht hatte Fürstin Niu oder eine der anderen Damen am Hof des Daimyō O-hisa mit irgendeiner Aufgabe betraut, und sie würde sich davonschleichen, sobald sich die Gelegenheit bot. Dennoch konnte Sano die schlimmste aller Möglichkeiten nicht ausschließen: daß O-hisa es sich anders überlegt hatte. Oder hatten die Nius gar davon erfahren und die Dienstmagd zum Schweigen gebracht? Was auch geschehen sein mochte, O-hisa kam nicht.
Es sah ganz so aus, als würde Sano nun doch nicht die Chance bekommen, seinen Posten als yoriki zurückzuerlangen und die Ehre seiner Familie wiederherzustellen – und daß er die Hoffnung begraben konnte, daß sein Vater sich von seiner Krankheit erholte.
Die aufkeimende Panik verleitete Sano zum Leichtsinn. Er eilte durch Nihonbashi zum Wohnbezirk der Daimyō. In dem Moment, als er das Tor des Niu -yashiki erreichte, wurde es geöffnet. Neue Hoffnung keimte in Sano auf – und schwand abrupt, als er sah, daß nicht O-hisa durchs Tor kam, sondern ein berittener Samurai, der mit seinem Pferd durch das Portal hindurchpreschte. Ein Blick ins Gesicht des Mannes, und Sano stürmte in die nächste Deckung. Der Reiter war Fürst Niu.
Binnen eines Augenblicks mußte Sano eine Entscheidung treffen. Entweder konnte er auf O-hisa warten – die möglicherweise nie mehr erschien –, oder er konnte Fürst Niu folgen, um vielleicht Näheres über die Verschwörung zu erfahren.
In Sanos Innerem fochten die Verpflichtungen gegenüber O-hisa, die ihr gemeinsam gefaßter Plan ihm auferlegte, einen Kampf gegen seine Neugier aus. Sano machte einen Schritt in Fürst Nius Richtung; dann blieb er unschlüssig stehen und blickte zurück auf das Anwesen. Schließlich nahm der Wunsch nach konkretem Handeln Sano die Entscheidung ab. Er eilte Fürst Niu hinterher.
Dem Sohn des Daimyō zu folgen war schwieriger als am gestrigen Tag. Es lag nicht daran, daß Fürst Niu beritten, Sano hingegen zu Fuß war, sondern am bevorstehenden Fest: Wenngleich die Feiern des setsubun offiziell erst nach Anbruch der Dunkelheit begannen, füllten die Straßen Nihonbashis sich mit ausgelassenen Stadtbewohnern, die bereits zu feiern begonnen hatten. Junge Männer in Frauenkleidern bestürmten Fürst Niu, riefen ihm mit gespielt weiblichen Stimmen Anzüglichkeiten zu und neckten ihn so lange, bis er drohend sein Schwert zog. Sein Pferd scheute, als Kinder mit Feuerwerkskörpern warfen, die vor den Hufen des Tieres explodierten. Hausfrauen eilten mit Körben durch die Straßen, in denen sich die letzten Besorgungen für die Neujahrsfeier befanden.
In diesem Durcheinander kam ein Berittener kaum schneller voran als ein Fußgänger. Doch ohne Verkleidung war Sano gezwungen, ein gutes Stück hinter dem Fürsten zu bleiben, um nicht gesehen und erkannt zu werden. Nach und nach geriet Sano zwischen dichtere Menschenmengen und kam schließlich kaum mehr voran. Ein betrunkener alter Mann wankte auf Sano zu und bot ihm mit schwerer Stimme Reiswein an. Eine Gruppe halbwüchsiger Jungen, die einen gespielten Schwertkampf vollführten, versperrte ihm den Weg. Zornig scheuchte Sano sie alle zur Seite. Er fluchte unterdrückt. Was war, wenn er zu weit zurückfiel und den Fürsten mit irgendeinem anderen Reiter verwechselte, der ebenfalls schlichte dunkle Kleidung trug?
Sano atmete erleichtert auf, als er schließlich aus dem lärmenden, erstickenden Wohngebiet im Stadtzentrum auf eine breite, vergleichsweise ruhige Straße gelangte, an der sich teure Geschäfte und die Häuser reicher Kaufleute befanden. Sano bog gerade noch rechtzeitig um eine Hausecke, um das Hinterteil von Fürst Nius Pferd in einer Gasse am anderen Ende verschwinden zu sehen. Sano rannte die Straße hinunter zu der Abbiegung, als ihn plötzlich eine Woge verschiedenster Geräusche überflutete: Rufe, Hufgetrappel und das Stampfen zahlloser Füße, die sich im Marschtritt bewegten.
Ein Trupp berittener
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