Der Kirschbluetenmord
nicht?«
Die Fürstin runzelte die Stirn, doch ihr Blick richtete sich wieder auf den Schrank. Sie öffnete den Mund, um etwas zu sagen, schloß ihn dann aber wieder. Eii -chan blieb stehen und wandte sich seiner Herrin zu, um deren Befehle abzuwarten.
Sano wußte, daß seine letzte Chance gekommen war. Hastig stieß er hervor: »Über dem Regal, in dem die Unterkleidung liegt. Die rechteckige Holzplatte. Seht Ihr sie? Dahinter ist ein Geheimfach!« Viele Schränke besaßen solche Fächer, um zum Schutz vor Dieben Geld und Wertsachen darin zu verstecken. Hoffentlich war es in diesem Fall genauso – und hoffentlich war etwas anderes in dem Fach als Geld.
Zögernd klopfte die Fürstin mit dem Knöchel gegen die Platte. Ein hohles Geräusch erklang, und hastig zog sie die Hand zurück.
»Da ist nichts«, sagte sie. »Nur … nur ein Fehler des Schreiners. Der Schrank ist ein billiges Stück. Mein Sohn möchte keine teuren Möbel in seinen Zimmern …« Ihre Stimme verebbte, und in ihren Augen lag Angst, als sie den Kopf hob und Sano anschaute.
Auf ihrem Gesicht konnte er das heftige Verlangen erkennen, das Verbrechen ihres Sohnes zu leugnen – aber auch das Verlangen, festzustellen, ob die Schriftrolle sich tatsächlich in dem Fach befand. Schockhaft wurde Sano klar, daß er und Fürstin Niu mehr Gemeinsamkeiten besaßen, als er es je für möglich gehalten hätte. Getrieben von dem Wunsch, jene Kräfte in Zaum zu halten, die durch die ungestüme Natur ihres Sohnes entfesselt wurden, war sie bereit, Ränke zu schmieden, zu bestechen, zu töten und zu vernichten. Nur mit dem Unterschied, daß die Loyalität der Fürstin gefährlich und fehl am Platze war. Doch wie auch Sano würde sie niemals Ruhe geben, bis sie die Wahrheit wußte. Diese Erkenntnis ermutigte Sano in gleichem Maße, wie sie ihn erschreckte. Er glaubte zu wissen, welche Entscheidung die Fürstin nun treffen würde, und er ließ sie ihren inneren Kampf ausfechten, bis sie ihren Entschluß gefaßt hatte.
»Eii -chan, nimm die Holzplatte fort«, befahl die Fürstin.,
Der Diener ging zum Schrank, wobei er Sano mit sich zerrte. Sano beobachtete in qualvoller Erwartung, wie Eii -chan mit der freien Hand sein Kurzschwert zog und es auf die Platte richtete. Die Fürstin hielt die Lampe in die Höhe, damit der Diener besser sehen konnte. Das Kratzen von Metall auf Holz, das ferne Krachen explodierender Feuerwerkskörper und das heftige Atmen Fürstin Nius waren die einzigen Geräusche im Zimmer.
Eii -chan schob die Klinge unter die Platte. Mit einer raschen Bewegung drückte er den Schwertgriff herunter. Die Platte löste sich mit einem scharfen Knall, der alle zusammenzucken ließ. Als die Platte zu Boden fiel, wurde Sano von einer Woge des Triumphs durchflutet. Er hörte, wie neben ihm Fürstin Niu heftig den Atem ausstieß.
Vor ihnen war ein schmales, dunkles Fach zu sehen, gerade groß genug, daß ein Mann beide Hände hineinschieben konnte. Fürstin Niu streckte den Arm aus und griff hinein. Ihr schmerzerfüllter Gesichtsausdruck zeigte deutlich, was ihre Finger ertastet hatten, noch bevor sie die Schriftrolle aus dem Fach nahm.
Fürstin Niu bewegte sich langsam, wie in Trance, als sie Eii -chan die Lampe reichte, der daraufhin Sano losließ, um das Licht halten zu können. Jetzt, dachte Sano, hast du wieder die Gelegenheit zur Flucht. Doch er ließ sie ungenutzt – wie schon wenige Augenblicke zuvor, als Eii -chan mit dem Schwert die Platte herausgebrochen hatte. Das gleiche Verlangen nach Wahrheit und Wissen, das Sano angetrieben hatte, seine Nachforschungen weiterzuführen, veranlaßte ihn nun, stehen zu bleiben. Er wollte diesen Augenblick unbedingt miterleben. Falls er sich geirrt hatte, was den Inhalt der Schriftrolle betraf, war sein Leben ohnehin nichts mehr wert.
Fürstin Niu löste die seidene Kordel, die um die Rolle gewickelt war. Auf ihrem Gesicht zeigte sich nun keinerlei Gefühlsregung mehr, doch es war noch bleicher geworden als zuvor. Behutsam öffnete sie die Rolle. Ihre Augen bewegten sich auf und ab, als sie den Blick über die Schriftzeichen schweifen ließ. Ihre farblosen Lippen formten lautlos Worte, während sie las. Dann sank sie auf die Knie. Die Rolle lag ausgebreitet auf ihrem Schoß, als sie den Kopf darüber senkte.
Sano trat einen Schritt auf die Fürstin zu. Eii -chan, der offenbar nicht wußte, wie er sich ohne die Befehle seiner Herrin verhalten sollte, hielt ihn nicht auf. Sano blickte auf die Schriftrolle
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